Altes Land

ERICH BOCKEMÜHL

Ein altes Land

Wenn man von der Landstraße aus den Weg an den dunklen Fichten vor dem Friedhof her auf das Drevenacker Dorf zuschreitet, kann man die beiderseits grünen Hecken als eine Einladung empfinden, die von dem hellen Laub der schon sehr alten Linde bestätigt zu werden scheint. Man steht dann schon in der Mitte der kleinen Ortschaft mit ihrem wenig mehr als einem Dutzend Häusern. Kommt man von der anderen Seite her den Weg vom benachbarten, am Lippefluß gelegenen Dorf Krudenburg gegangen, dann hat man mit ein wenig Phantasie den Eindruck, vor dem Rest eines ehemaligen Waldes zu stehen, dessen mächtige, hochaufragende Kiefern die alte Ortschaft umschließen.

Gleich der Hof der einstigen Dorfschule, so erkennt man gleich, ist mit seinen Bäumen vom ehemaligen Heidewald übriggeblieben. Das alte Dorf Hegt inmitten verhältnismäßig hoher, noch zum Teil bewaldeter Wälle, Eiszeitdiinen, wie sie in der Nachbarschaft des Waldes mehrfach zu finden sind, und auch den fremden Wandersmann mag ein Gefühl der stillen Geborgenheit anheimeln, das sinnbildlich gestärkt wird durch alte hohe Birken mit borkig-schwarzer Rinde und eine sehr alte Eiche vor dem noch erhaltenen ehemaligen Schulhaus. Eine vom Sturm schräggebogene Kiefer scheint mit ihrer Krone die alte Kate am Dorfeingang zu beschirmen, während eine andere, ebenso verbogene, zur Kirche neigt. Die alte Katstelle hatte vor wenigen Jahren noch ihre ehemalige Gestalt. In ihr war die nach oben offene Feuerstelle noch zu erkennen. Die andere, vermutlich noch altere Kate, stand auf dem Hügel hinter der Kirche. Ihre Diele war mit bunten Kieselsteinen belegt. Auch in ihr war die Feuerstelle noch erhalten, aber das Haus war altersschwach geworden und mußte abgebrochen werden. Die Zeit war über das Dorf von einst hinweggegangen, jedoch ist der hölzerne Torfschuppen nahe der Kirche für manche Bewohner noch eine langgehegte Erinnerung geblieben. Er hat zwar seine einstige Bestimmung lediglich nur noch als Holzschuppen überdauert. In den beiden Gastwirtschaften hatten die Besucher des sonntäglichen Gottesdienstes, bevor die Kirche geheizt wurde, ihre „Fürstöwkes” (Feuerstübchen) abgestellt, kleine, zum Teil mit Ornamenten hübsch verzierte Holzkästchen, in denen in einer Tonschale Torfstücke angezündet wurden, die im langsamen Verbrennen im winterkalten Raum die Füße wärmten, in jener Zeit, als der Überlieferung nach die ärmeren Leute noch in weißgescheuerten Holzschuhen zur Kirche gingen.

Man kann sich unter solchen Bedenken schon recht weit in die Vergangenheit zurückversetzen. Das Haus der ersten Schule des Dorfes stand auf dem späteren Gartengelände der der Kirche zunächst gelegenen Gaststätte. Die damals neue Schule wurde kurz nach 1800 gebaut. Als auch sie dem Verfall anheimgegeben war, erstand an ihrer Stelle am Eingang des Dorf es in den 90er Jahren ein Neubau, der noch heute kirchlichen Zwecken dient. Die Dorfschule liegt seit 1957 am Peddenberg jenseits der Landstraße. Das Haus des Schreiners stand unmittelbar an der Kirche. Der alte, Mitte des Jahrhunderts geborene Großvater, der sich nicht erinnern konnte, daß die Stämme der Schulhofskiefern, in denen sie als Jungen die Eichhörnchen jagten, seit seiner Jugend an Umfang zugenommen hatten, so alt mußten sie demnach schon sein. Er verrichtete seine berufliche Tätigkeit bei gutem Wetter draußen, im Winter und bei Regen in der Diele des alten Hauses. Von der Stätte der alten Schmiede nahebei war um die Jahrhundertwende nicht mehr als ein baufälliger Schuppen übriggeblieben, und auf der kleinen Weide zwischen Kirche und Dorfstraße stand vor gut fünfzig Jahren noch eine Kate, von der der zugehörige Kälberstall noch bis in die zwanziger Jahre stehen geblieben war. So waren ehedem mehrere der Häuser des Dorfes dicht nahe an die Kirche gebaut, so wie die Küchlein sich um die Glucke scharen. Die Häuser von heute stammen zumeist aus der Zeit nach 1900, mit Ausnahme der Kirche und des Pfarrhauses. Es wird aber nur wenigen der heute noch Lebenden möglich sein, sich das Bild des alten Dorfes aus der Zeit vor der Jahrhundertwende zu vergegenwärtigen.

Es hat sich wie allenthalben in den Jahrzehnten nach dem Kriege manches verändert, was dem Gesamteindruck nicht förderlich gewesen ist. In ihrer Form gut gebaute neue und auch einige alte modernisierte Häuser stören die Harmonie der Dinge nicht, aber die Litfaßsäule, an der die bunten Papierfetzen im Winde flattern, ist an der Stelle, wo die baufällig gewordene letzte alte Kate beseitigt werden mußte, kein gutes Denkmal, wie die sensationelle Beleuchtung der beiden Dorfwirtschaften, eine mit der Vergnügungsreklame des halben Mondes, zum mindesten ein eklatantes Mißverstehen bedeutet . . . Wohl sind die Zeiten, da man an Sommertagen bei geöffneten Fenstern auf der Dorfstraße noch das Ruckidicku der Lachtaube aus der stillen Stube hören konnte, endgültig vorbei.

Das in seiner Grundform erhaltene Wohnhaus am Dorfplatz ist das Pastorat, ein in seiner Schlichtheit eindrucksvoller Bau aus der Zeit um 1800, in dem der Pfarrer Heinr. Chr. Nonne 1814 das Lied „Flamme empor” gedichtet hat. Der Mittelpunkt des Dorfes ist auch heute noch die Kirche, die uns mehr als die ältesten Bäume an die frühe Vergangenheit erinnern kann. Wenn man Feststellungen bisheriger Forschungen folgen will, dann mag sie zum Teil auf den Fundamenten eines burgähnlichen Gemäuers ruhen, vor allem der mit starken Bruchsteinen sehr breitwandig gebaute Turm, der deutlich Schießscharten aufweist. Jedoch sind viele Kirchtürme des niederrheinischen Landes Wehrtürme gewesen. Das typisch romanische Doppelfenster mit Mittelsäule und Würfelkapitell weist weit zurück, möglicherweise bis Ende der karoiingischen Zeit. An der äußeren Ostseite der Kirche sind zwei Memoriensteine eingemauert, die Professor Clemen in das 10. bis 11. Jahrhundert zurückverlegte. Erinnerungs-steine sind es mit den Namen einer „Adalheit laica” und einer „Gerswidt laic” und der Aufschrift „Anima eins sit in pace” (Friede sei mit euch). Auf jedem der beiden Steine ist ein Kreis sichtbar gemacht, der von einer Linie durchschnitten ist. Nach Dr. Borger vom Rheinischen Landesmuseum ist das sich in allen Memoriensteinen befindliche Zeichen die übliche Abkürzung für obiit (gesprochen ob üt), und das bedeutet: er, sie oder es starb. Eine Laica war die Gattin eines Laicus, der, so wird uns berichtet, „nach dem Vorbild der fränkischen Könige eine Hauskapelle besaß”. Es liegen Dokumente vor, die sich auf eine capella zu Drauenwinkelle oder zu Dravewinkel (Drevenack) beziehen, so daß die Annahme einer ehemaligen Burg gerechtfertigt sein kann. Der 1925 verstorbene Pfarrer Friedrich Althen hat in seiner verdienstvollen Broschüre „Die Lutherische Gemeinde Drevenack” auch den Namen der Ortschaft zu erklären versucht, dessen Schreibweise sich von Dreuenic über Dreuenich (u wie v gesprochen) bis zu Drevenack verändert hat.

„Drevenack hat mit größter Wahrscheinlichkeit in keltischer Zeit Drevenakon oder Dre-venikon geheißen, und das bedeutet: Besitztum des Dreven.” So möchte also eine keltische Familie in vorchristlicher Zeit die Ortschaft Drevenack gegründet haben, und seltsamerweise wurde diese Annahme in jüngster Zeit noch dadurch erhärtet, daß in unmittelbarer Nähe des Dorfes in einem Sandhügel hinter Bußmanns Haus Graburnen und Scherben gefunden wurden, die fachwissenschaftlich als keltischen Ursprungs und wahrscheinlich der Zeit zwischen 800 bis 500 v. Chr. zugehörig erkannt wurden, wodurch sich dann lange gehegte Vermutungen bestätigen könnten.

Eine eigentümliche Erscheinung bietet der Halbmond als Wetterfahne auf dem Turm des 20 Minuten vom Dorf entfernten Schlößchens Schwarzenstein, das im Volksmund noch lange als „Castell” bezeichnet wurde und zudem die Tatsache, daß die Gastwirtschaft nächst dem Pfarrhaus ursprünglich den Namen hatte: „Trotzenberg am halben Mond.” Es besteht gemäß der Forschung des auf Schloß Lauersfort bei Moers lebenden Dr. ]o Heinsch die Möglichkeit, daß es sich bei Schwarzenstein um eine Stätte innerhalb des Systems einer schon vorzeitlichen Raumordnung im Wesen der Maßzahlforschung der Kulturgeographie, um einen im Westen mondbetonten Kult einer Gottesverehrung handeln kann. Es steckt hinter dem astronomischen Zahlensystem wohl auch eine Mystik, aber zum mindesten ist die Forschung ernst zu nehmen. Und wenn Unerklärliches ungelöst bleibt, so mag es auch gut sein, zumal nicht alles im Leben restlos erklärt werden kann und im letzten Grund alles Leben ein Geheimnis bleiben wird. Eine unerklärte Bewandnis hat es auch in bezug auf zwei seltsam geformte Steinmale, die im Volksmund „Puppen” genannt wurden, die der verstorbene Vater des jetzigen Besitzers, Alfred Eichelberg, der das Opfer eines Nachkriegsüberfalls geworden war, von den nahen, „Sterneberge” genannten Heidehügeln in den Hof des Schlößchens befördern und aufstellen ließ. Und so ist wohl unser Drevenack als ein altes Dorf in einem alten Land zu erkennen, in welchem in der aufgeforsteten Heide wie auch in Äckern und Weiden der Umgebung noch manches zu entdecken und erforschen wäre, was Licht in eine sehr ferne, dunkle Vergangenheit bringen könnte. Es war zu Anfang der dreißiger Jahre, als ein wissenschaftlich ausgerüsteter Forscher während 14 Tagen in der Umgebung von Schwarzenstein, auf dem Abhang vom Bekenstrang zum Weg zur Schwarzen Heide hin und wohl auch in den Kaninchenbergen, eine große Anzahl von Pfeilstücken, Scherben und anderer Merkmale, in mehreren Kisten verpackt zur wissenschaftlichen Auswertung mit nach Bonn nehmen konnte. „Ein altes Land . . .!” Heide, Wald und Moor! Ein dunkles Land mit den Kiefernwäldern zwischen den einsamen Wegen! Nicht ohne Ursache hat die „Schwarze Heide” auf die Issel zu ihren finsteren Namen erhalten. Selbst die Schneisen liegen vielfach in einer stetigen Dämmerung. Und ob der Name „Schwarzenstein” am Rande des Lippetals auch Bezug zu der schwarzerdigen Moorlandschaft hat, in der vor Jahrhunderten Mengen Torf gestochen wurden, so daß es zu dem sogenannten „Torfkrieg” zwischen dem damaligen Besitzer und der Stadt Wesel kommen konnte? Man erkennt allenthalben die Entwässerungsgräben noch, durch die die erste Aufforstung ermöglicht wurde. Auch das scharf rechteckige „Schwarze Wasser” ist von Menschenhand entstanden, während der Torfsee, das alte Venn, den Charakter eines Naturgebildes aufweist. Beiderseits des Weges auf Wesel zu begegnet man noch manchem Moortümpel, der von Heidekraut umlagert ist. Man spricht mit Recht von einer dämonischen Landschaft. Wer in Novembertagen in der frühen nebelhaften Abenddämmerung in der Wacholderheide der nahen Loosenberge den umschwebten und scheinbar bewegten Gestalten unter alten knorrigen Eichen ohne Bangigkeitsgefühlen standgehalten hat,’der mag damit sein in der Wirrnis der Zeiten bedrohtes inneres Gleichgewicht wiedergefunden haben. Man fühlt sich dem Geist der Schöpfung nahe, zugleich in dem Empfinden, als sei durch diese Einsamkeit noch kein Mensch vorher gewandert. Eine unbedingte Ursprünglichkeit gibt es in der Formation des jetzigen Landes nicht mehr, die Ursprungslandschaft ist aufgeforstet, aber nichtsdestoweniger spürt man Vergangenheit, so, als lebe man in und mit ihr gleichsam in einem Zustand des Vergangenen, so aber, als sei sie immer noch gegenwärtig. Das Geheimnis erweist sich in zahlreichen Sagen- und Spukgeschichten, deren Überlieferung sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat. Die Menschen sind wie das Land und wie die alten Häuser mit den tiefen, die Augen beschattenden Dächern einstmals waren, verschwiegen, vielfach gar hintersinnig und wie im Schreiten so auch im Sprechen und Erzählen schwer und wie befangen. Aber ihrer Heide sind sie zugetan und haben nichts dawider, daß man ihnen seit je schon halb scherzend oder auch ernsthaft charakterisierend den Namen „Sandhasen”, „Dre-vena’ckße Sandhasen”, gegeben hat.

Wenn es im Herbst den von Nebelstreifen umschwebten Strohschober unter den hohen Kiefern mit den sie umflatternden Krähen jeweilig auch noch gibt, so ist dagegen die alte Windmühle am Peddenberg nur noch wenigen eine Erinnerung, manchem Jungen von dazumal allerdings im besonderen, die noch kurz nach der Jahrhundertwende in dem gebrechlichen Cebälk der Ruine ihre gefahrvollen Kletterkünste versuchten.

In einer Weide auf Damm zu stand der Schafstall noch, und den Ziehbrunnen mit dem ungleicharmigen Hebel hat mancher oder manche der heute noch Lebenden für die Viehtränke bedient. Noch bis über den Weltkrieg hinaus war dem Bauer am Rand der Heide zur Lippe hin eine Schafherde von rund 50 Tieren zueigen. Es ist viel Heideland urbar gemacht und in Acker- und Weideland verwandelt worden. Das „Bergmannsvenn” am Postweg wurde trockengelegt. Den Kindern war es immer eine Freude, das kieselklare Wasser zu durchwaten, wenn die Kiebitze in flatternder Besorgnis um ihre Brutstellen nicht da niederflogen, wo diese lagen, sondern, wie die Kinder sehr wohl wußten, ein Stück entfernt, um so die Menschen zu täuschen. In Weideland verwandelt wurde auch der große Holdiek, ehemals ein sich ungefähr parallel der von Napoleon gebauten Landstraße einige hundert Meter bis in Damm hinstreckendes natürliches Auffangbecken für die von der Endmoräne des einstigen Lippegletschers abfließenden Wässer. Auch dort blühten im Sommer die gelben Teichrosen und am Rande die Schwertlilien. In der Nähe und vielfach anderswo erfreute man sich über den blauen Moorenzian, von dem wir auch einige Exemplare mit weißen Blüten fanden, auch weißes Heidekraut, von dem ein Sträußchen, am Mieder angesteckt, den Mädchen Glück in der Liebe versprach.

Sonnentau, die Fliegenfängerpflanze, brauchte man dort nicht lange zu suchen. Vom „Kleinen Holdiek” zum Wach-tenbrink und Siebenstern hinauf erstreckten sich ganze Gelände hin, mit der kleinen Glöckchenheide bewachsen, der „eigentlichen” Erika, im Verhältnis zu der Strauchheide (cal-luna vulgarisj. Ehedem haben die Leute aus den zarten Stengelchen der, wie sie sagten, Bes-semshei, Spülbesen hergestellt. Auf solch stille Weiher/ deren es noch mehrere gab, konnte man Annette von Droste-Hülshoffs Gedicht „Der Weiher” beziehen:

„Er liegt so still im Morgenlicht, so friedlich wie ein fromm Gewissen . . .”

Reiher flogen auf, wenn man unverhofft hinzukam. Der Freund beobachtete zwischen Schilf und Wollgras eine Wildentenmutter mit ihren Küchlein. Eine Ricke kam mit ihrem Kitz zur Tränke, und um die Pfingstzeit bot sich die Gelegenheit, die Kinder auf den auch „heiligen Geist der Natur'” hinzuweisen, den man im Vogelsang aus allen Zweigen, mit dem Duft der jungergrünten Birkenblatter und dem der Blütenbäume und Gesträuche mit allen Sinnen in die Seele atmen konnte.

Das alte Torfvenn bei Schwarzenstein verlandet, die anderen stillen Gewässer allenthalben in der Heide sind ausgetrocknet. Ob über der sumpfigen Senke im Schwarzensteiner Wald der Schwarzspecht noch nistet? Ob es in der Zukunft noch Reste der alten Landwehr Lanier, wie sie im Volksmund heißt, gibt?

An einer Stelle auf Obrighoven zu zogen sich zwei Walle hin, zwischen denen der Lanterbach floß, der vor 50 Jahren auch im Sommer nur selten einmal austrocknete. Königsfarn breitete seine großen Wedel aus, und unter dem tief herniederhängenden Gezweig blühten weiß und rosa die Buschwindröschen und konnten die Kinder im Juni, wenn am Rand die Heckenrosen blühten, Heidelbeeren pflücken. Ob der Bitterkiee im Schlepplaken nah am Dorf noch blüht und im Olland am Heiderand im Sumpf das rote Knabenkraut, bei Schwarzenstein die Moosbeere im Moor? findet man am Weg zur Nordschule und auch zum Wachtenbrink hin den Gagelstrauch noch, den die Bauern Porst nennen, dessen narkotische Rinde sie in der Vorzeit zur Bereitung des Hausbiers brauchten, den kleinen dornigen Ginster (genistra angüka), der fast das ganze Jahr hindurch noch blüht, die zarte rote Pechnelke oder liebliche Federnelke, „Blutströpfchen”, wie die Kinder sagten, den Bär-läpp, dessen Ausläufer sich zwischen dem Moos hinschlängeln, die seltene Arnika, die wir über dem Graben an der Landstraße vereinzelt und später an einem alten Brandteich fanden, den sie mit ihren goldiggelben Blüten rund umkränzte? Fast alle geschützten Pflanzen, auch die gelbe Ährenlilie (narthezium ossifragum) und die blaßgrünliche Waldhyazinthe (platan-thera bifolium) entdeckten wir in der Heimat, und zwischen Kornblumen und Mohn blühte noch die bescheidene Kornrade, das Jüngferchen mit dem violetten Mieder und dem grünen Schürzchen — aber auch das giftige Bilsenkraut und den Stechapfel kannten wir, und auch nicht weit vom Vinkel einen Tollkirschenstrauch.

Der alte Vorsteher erinnerte sich noch an den letzten Wiedehopf. Die Nachtigallen weckten uns im frühen Morgen, und auf der Futterstelle der Hühner fand sich alle Morgen ein stolzer Fasan ein. Je und dann wechselte am alten Schulhof vorbei ein Reh aus dem einen in das andere Waldstück. Im Oktober hört man in den kühlen Mondlichtnächten vom Dämmerwald her die Hirsche röhren. Eine Eibe wächst noch am Rande vom Eiskamp bei Schwarzenstein, ein anderer starker Eibenbaum wurde vom orkanartigen Sturm Ende 1940 im Hunsdorf umgelegt. Ob außer dem alten, langhin gestreckten, Menschen und Vieh unter einem Dach bergenden Bauernhaus bei Schwarzenstein noch irgendwo anders eins dieser Art erhalten geblieben ist? Warum hat man die schattenspendenden Knicks in den Weiden zerstört und jene niedrigen, die Höfe, Gärten und Äcker umgebenden Wallhecken, die die Vorfahren zum Schutz gegen den Frühjahrssandwind angelegt hatten? Die Straßen mit den ehemals mit Pfählen abgetrennten Gehwegen sind asphaltiert — so nützlich und unvermeidlich das zeitentsprechend notwendig  geworden  ist,  aber  die Romantik des blühenden Heidekrauts zwischen den Karrenfurchen und der blauen Blume Enzian inmitten der liebenswerten Bessemshei mit ihren Glöckchen ist zerstört und zumindest selten geworden.

Wenn der schon genannte Pfarrer Nonne in seinem Büchlein „Vermischte Gedichte und Parabeln” die Drevenacker Landschaft mehr oder weniger als eine Einöde charakterisiert, so lag ihm offenbar der Vergleich mit seiner Lippstadter Heimat mit den Buchenwäldern zu nahe.

Auch Annette von Droste-Hülshoff, die mehrmals über die Schermbecker Landstraße, an deren Seiten in Drevenack noch Birken stehen, mit dem Reisewagen von Wesel nach Münster gefahren ist, hat von der Landschaft nicht den ihr entsprechenden Eindruck gewonnen, obwohl ihre Heimat um das Rüschhaus kaum anders ausgesehen haben kann. Es verhält sich mit der Beziehung zur einer Landschaft ähnlich wie zur Mundart ihrer Bewohner. Der Fremde muß sich in das Melos der Sprache hineinfühlen, und wer das vermag, fühlt sich auch in das singende, klingende musikalische Wesen des landschaftlichen Gebildes ein. Es hat alles seine Musik in der Welt, die im Isseltal bei Haus Esselt, wo unter uralten Buchen noch Maiglöckchen und am alten Isselgraben Schneeglöckchen blühen, anders als im Schwarzensteiner Moorgebiet. Wer der Heidelandschaft nicht das Gefühl der Schönheit überhaupt entgegenbringen kann, der vermag auch die kleine Schönheit nicht zu werten, in der die Symbolik des einfachen Wesens beruht. Selig sind die Armen im Geist — es kommt darauf an, daß man ohne Voreingenommenheit die Natur betrachtet, dann erschließt sich ihr Geheimnis jedem, der guten Willens zu ihr ist. Wer aber für die kleine Schönheit kein Auge hat, der geht an der großen auch unberührt vorüber. Aber es ist auch das Dämonische, das den Menschen in der Drevenacker Heide zu berühren vermag. Unter solchem Eindruck aber ist das Menschentümliche zuunterst erregt, ist die Wurzelung erfaßt und in die Entscheidung gestellt zum Guten wie zum Bösen, zum Nutzen wie zum Schaden, wie es Goethe dem Sinne nach einmal gesagt hat. Je dunkler aber die Hintergründe, um so heller leuchtet das Leben in allen Jahreszeiten wieder auf, jeden Morgen neu zum neuen Tag.

Wenn sich über den Bach am Rande der Heide die Erlenzweige mit ihren unzählbaren Blütenkätzchen herniederneigen und die Sonne in das vom Wind gelöste Stäuben scheint, so daß die alten Bäume wie im eigensten Glückserschauern dastehen, dann ist im Bewußtsein der Menschen der Winter vergangen. Wie lichte Frühlingssträuße heben sich die gelblich grünbelaubten Birken von dem dunklen Hintergrund des Kiefernwaldes ab. Bald schon wird das dunkle Moorgelände umsäumt vom Kranz des weißen Wollgrasblühens, und in seltener Mannigfaltigkeit prangen die Wiesen wieder im Reichtum aller Farben, überschimmert vom bräun-lichgoldnen Blütenstaub der hohen Gräser … in diesen Zeiten, da noch der Kuckuck ruft und wie aus dunklem Brunnentraum das trunkene Dudliöh des Pirols, der Goldamsel, klingt. Bald ist Sommer, Die Getreidefelder des ebenen Landes liegen weit gebreitet wie ruhende Zeit. Schon blüht unter sonorem Bienengesumm die Heide wie ein Abendrot des Jahres. Unter Hchtdurchschienenen Ebereschentrauben liegen die weißen Wege da, als wären sie selber im Frieden der Natur im Dämmerschlaf versunken. Im Herbst brechen die Äste alter Bäume im Sturm der Zeit, und die alten Eichenstümpfe recken ihre Arme gegen das Schicksal der Vergänglichkeit des Lebens. Besänftigend jedoch liegt das Licht der schwindenden Sonne zinnoberrot im Geäst der alten Kiefern. Rauhreif verzaubert weihnachtlich Wald und Dorf, und im Walde ist ein tempelhafter Raum, in den der Schneesturm nur leise die Flocken niedersäuseln läßt, so leise, daß einem die Stille nur noch um so leiser erscheint. Mag es anderswo wenig oder mehr anders sein, die Jahreszeiten zu erleben: Es liegt ein unscheinbarer, aber um so feinerer Glanz auf den oft verborgeneren Dingen, der in das Geheimnis des Lebens zu leiten vermag. Romantik? Immerhin. Aber fern aller schwärmerischen Sentimentalität handelt es sich um seelisches Sein.

„Eine Stunde am Rande des Tages, und das Land ist zu allem bereit. Was du sehnst, meine Seele, sag es: Sei Heide, und, Heide, sei weit. Habe alte, alte Kurgane, wachsend und kaum erkannt, wenn es Mond wird Über das plane langvergangene Land.”

So und auch weiterhin wird dem Dichter Rainer Maria Rilke in seinem Stundenbuch die Heide mit ihren Grabhügeln (Kurganen) zum Sinnbild und damit zum Erlebnis des „Alten, den ich kaum von der Nacht unterscheide”, für den alles „innen ist, Himmel und Heide und Haus”, des ewigen Gottes. Was aber bedeutet „Heimat” als seelisches Sein in diesem Bedenken? Heimat der Kindheit und Jugend, immer aber auch Heimat im steten Zurückfinden zu sich selbst. Und so aber auch kann Heimat immer wieder werden, wo man mit der Landschaft und den Menschen zu einem inneren Kontakt gelangen kann. Jede Stunde kann neuer Anfang sein, an jedem Morgen wird wieder das Licht ein Geschenk zu neuer Lebensbejahung. Auch über Drevenack läuten morgens, mittags und abends die Glocken der alten Kirche weit über das Land, die Menschen zu einigen, damit Friede sei in Heimat und Land und über der ganzen Welt.

Es wurden in letztvergangenen Jahren auch in Drevenack viele neue Häuser gebaut und bezogen von Menschen, die die Ruhe der Einsamkeit, wie sie die Heide zu bieten vermag, suchten, sich selbst wiederzufinden aus dem Lärm der großen Städte.

Es ist wohl zu erwarten, daß sie in der Zuneigung dieser Landschaft diese nicht nur zu schätzen, sondern auch zu schützen wissen. Auch dem in diese Heimat Hineingeborenen ist zu wünschen, daß er sich ihrer Besonderheit bewußt wird — des Wesens dieses alten Landes, dem zuliebe dieser Beitrag geschrieben wurde.

Auch die Tradition ist ein Faktor unseres inneren Seins, der uns über die Gegenwart sicher in die Zukunft zu leiten vermag.

 

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