Birke

Die Birke auf dem Hügel                                                    Heimatkalender 1964
von Erich Bockemühl

Wir nennen den Hügel, den ich oftmals vom Dorfe aus hinaufwanderte, einen Berg. Der breite Weg ist so wenig begangen und befahren, daß die Kätnersleute auf ihm im Sommer die Schafe und Kühe weiden. Wenn nicht zu beiden Seiten die meist mit Wasser gefüllten Gräben wären, aus denen die Gagel-, Schneeball- und Brombeersträucher wild hervorwuchern, und wenn nicht die Weiden zu Seiten eingezäunt wären, würde man ihn kaum als Weg erkennen, und schnell immer recken sich Gras und Heidekraut, wenn die Karrenräder es niedergedrückt haben, wieder hoch.
Alte Eichen stehen am Rande der Weiden — aber im grauen Herbst, oder, wie nun im weithin weißverschneiten Winter, da ich den Hügel hinaufschreite, scheinen sie überhaupt nicht mehr in den Bezirken menschlicher Zweckmäßigkeit zu stehen, sondern nur noch vor dem Himmel. Und was vor dem Himmel steht, steht vor uns in der Ewigkeit. Das Land dehnt sich bis an den Wald, und der Wald? Wo nun weiße Fläche ist, war vordem auch Wald. Der Wald hüben und drüben ist ein Rest der Waldes, der über Sommer und Winter allezeit das Land überrauschte. Die Wolken und die Sterne sahen hernieder auf den Wald, auf nichts als Wald — und die Landschaft, die Erde, sah durch die Wipfel und das Geäst allenthalben hinauf zu den Wolken und Sternen des Himmels. Vor diesem Wald war ein anderer und doch derselbe Wald. Der Wald dieser Zeiten erwuchs aus dem Wald jener Zeiten, und der Wald jener Zeiten aus dem Wald voriger Zeiten. Ich habe mich oft gefragt, woher es kommt, daß ich auf diesem Wege immer meine, in die Vorzeit, in die Vergangenheit selbst, in einen dieszeitlich gegenwärtigen Raum der Vergangenheit zu schreiten. Und ich weiß, daß ich mir die letzte Antwort immer schuldig bleiben werde. Aber indes ich es leise vor mich hin in die weiße und graue Landschaft und Ferne spreche, nämlich: „Ewiger Wald” — ist mir das Gefühl und tiefere Empfinden, das ich bei diesen Worten in mir selbst beobachte, wie eine Antwort.
Die weiße Fläche ist wie ruhende, schlafende Zeit. Wie soll ich nur die Sterne im Schnee — (ich weiß es wohl, daß sie von den Füßen der Fasanenvögel herrühren) — zierliche schöne Sterne — deuten in dieser Einsamkeit, die mich wie Vergangenheit und Ewigkeit berührt? Es macht mich froh, diese Sterne zu sehen, und es kommt mir gar nicht zum Bewußtsein, daß sie von irgendwelchen lebendigen Wesen, die in dieser ewigkeitlichen Einsamkeit zu Hause sein können, herrühren. Es sind schlechthin Sterne im Schnee und sind — in meinem mich-meiner-selbst-Erinnern — Sterne in meinem Gemüt.
Der Himmel ist grau und ohne Sterne. Der Himmel ist grau, das Land ist weiß, der Wald ist dunkel, und ganz oben auf dem Hügel steht ein einziger Baum. Ich liebe die alten Kiefern zur Seite, die im Dunkel ihrer schwarzgeballten Äste die Geheimnisse ferner Zeiten in sich bergen. Dunkle Vögel erheben sich aus ihrer Stille mit schwerem Flügelschlag. Ob ich es wohl weiß, daß es Vögel sind, die im leichten Schweben ihr Sein hinübertragen über den Schnee der Landschaft zwischen Himmel und Erde hin; ob ich selbst ihre Namen kenne, Namen, mit denen sie die Menschen bezeichnen und unterscheiden, so sind sie mir doch in dieser Stunde nichts als ein Geschehen. Ein Geschehen der Landschaft, der Ewigkeit der Landschaft, eine Stille, ein Geheimnis, ein Unerklärbares und ewig Rätselhaftes. Wer vermag das Sein und Wesen jener alten Eichen zu erklären, die mehr als ein Jahrhundert sich wachsend selbst geschehen lassen? Aus welchem Grund?
Zu welchem Zweck und Ziel?
Aus welchem letzten Grund und zu welchem letzten Ziel? Aus welchem letzten Grund und zu welchem letzten Ziel und Zweck die Häuser, die alten, die an diesem winterlichen Dämmerabend in sich ruhenden, verschlossenen, geduckten, schlafenden sich breitenden Bauernhäuser dort unter den Bäumen stehen? Aus welchem Grunde und zu welchem Zweck und Ziel die Erde, die große Erde zwischen den Himmeln schwebt? Zu welchem Ziel und aus welchem Grund die Himmel, sich in sich rundend ich vermag den Gedanken nicht mehr nachzugehen: denn wie vermag ich es zu denken, daß auch die Himmel, sich in sich rundend, schweben — und in welchem Raum? Und in welcher Einigkeit mag das Zentrum des Bewußtseins sein? Und der Punktgedanke jenes Welt-All-Bewußtseins: aus welchem Grund und zu welchem Zweck und Ziel? Und wenn das Leben dieses Allumfassenden nichts weiter ist, als ein ewig sich wiederholendes in sich und zu sich selbst Erfüllen? Aus welchem Gedanken und zu welchem Zweck und Ziel?
Indem mich ein erschauderndes Erschrecken überkommt, stehe ich oben bei dem alten Birkenbaum, der das einzige Wesen der Höhe ist — und indem ich mit kaltem Frösteln über die Landschaft schaue, ist es mir, als wenn die Sterne im Schnee (die Sterne in meinem Gemüt) ein leises Singen begännen — und in jenem Haus der Menschenzeit, das dort am Rande des Waldes liegt, erscheint ein Licht, das durch die kleinen Fensterscheiben leuchtet. Es beginnt zu schneien, und auch dieses Schneien ist mir ein tröstliches Geschehen in der Einsamkeit des weithin ewigen Seins.
Immer doch war mir dieser Birkenbaum ein Wanderziel. Sonderbar — ich bemerkte ihn in den lichten Zeiten seines Ergrünens kaum, und auch unter dem Sonnenhimmel, vor den wogenden, das ganze Gold des Sommers hügelaufwogenden Reifefeldern nicht. Als er die schwarzen Reiseräste vor dem grauen Winterhimmel an seinen Enden herniederhängen ließ, als seien sie schwer von Nebel und Traurigkeit, da erst habe ich ihn erkannt: Aus dem Tale her bei meinem Schreiten zur Höhe hinauf. Und immer war es von unten her, als sei er viel größer als seine wirkliche Gestalt. Und nun auch in der Erinnerung ist er mir mächtig hinaufgewachsen und so, als breite er seine Äste über das ganze Land — vom Himmel her über den Schnee und den Wald und die Häuser und über mich, der ich mich von ihm behütet meine. Trägt er den Himmel und die Wolken und nachts die Sterne? Seine Wurzeln greifen tief hinein in den Berg und in der Erde Grund —Weltenbaum mit dem verborgenen Wissen der Geheimnisse der Höhe und der Tiefe — und zwischen dieser Höhe und Tiefe wandern wir Menschen in dieser Einsamkeit des ewigen Seins
Unsere besten Gedanken sind in der Erinnerung unserer Träume bedingt. Im Unerklärlichen steht unser Leben — und es ist weder Traum noch Phantasie, sondern allen Daseins wahrhafte Wirklichkeit, daß wir, ob hier, ob da, in unserer Zeitlichkeit durch das Ewige schreiten und daß wir uns allein in dem Bewußtsein dieses Ewigen in der Zeitlichkeit zu Hause — in der Heimat — fühlen . . .
Sterne im Schnee, Sterne in meinem Gemüt — und unter dem Weltenbaum der Höhe stehend blüht mir im Tal das schöne Leuchten aus dem Fenster eines Menschenhauses.

Man muß, will man sein Glück genießen, die Freiheit zu behaupten wissen.
Gellert

 

Dieser Beitrag wurde unter Drevenack veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.