Die Entführung

DIE  ENTFÜHRUNG                                                             Heimatkalender 1969
von Ernst Bönneken

Episode aus Krudenburgs Franzosenzeit

Durch meine Kindheit geisterte aus Erzählungen meines Vaters und meiner Onkel und Tanten ein französischer Urahn, der mit den napoleonischen Heeren an den Niederrhein gekommen war und dort meine Ururgroßmutter, eine geborene Benninghoff aus Krudenburg, geheiratet hatte. Es war von einer romantischen Brautentführung die Rede. Genaueres war den Erzählenden aber nicht bekannt. Was sie wußten, waren nur Bruchstücke aus der mehr oder weniger verschwommenen mündlichen Überlieferung. Diese Erzählungen haben mir als Kind schon keine Ruhe gelassen. Als ich mich dann später intensiv mit familienkundlichen Dingen befaßte, bin ich auch den Ereignissen um den französischen Urahn durch eingehendes Studium der teilweise noch erhaltenen alten Standesregister aus der Franzosenzeit und anderer einschlägiger Akten nachgegangen. Ich trieb sogar noch eine uralte Großtante auf, die sich auf weitere Einzelheiten aus der mündlichen Überlieferung besinnen konnte. Meine Nachforschungen fanden ihren Niederschlag in nachstehender zusammenfassenden Darstellung, die über den engeren familienkundlichen Rahmen hinaus als interessantes niederrheinisches Zeitbild den Lesern des Heimatkalenders nicht vorenthalten werden soll. Während der napoleonischen Kriege vor mehr als 150 Jahren war die untere Lippe einmal Grenzfluß zwischen zwei Staaten. Da, wo sie heute die Kreise Rees und Dinslaken scheidet, bildete sie damals die Grenze zwischen dem Frankreich einverleibten Gebiet nördlich der Lippe und dem von Napoleon geschaffenen Großherzogtum Berg unter dem ehemaligen Reitergeneral Joachim Murat, seinem Schwager. Krudenburg auf dem rechten Lippeufer gehörte zur französischen Mairie Schermbeck (Arrondissement Rees, Departement de la Lippe), während Hünxe auf dem linken Lippeufer der großherzoglich bergischen Mairie Gahlen (Canton Dinslaken, Arrondissement Essen, Departement du Rhin) unterstand. Zwecks strenger Durchführung der Kontinentalsperre“ hatten die Franzosen auch in Krudenburg einen Zollposten stationiert, der den Verkehr zwischen Krudenburg und Hünxe über die Lippebrücke bzw. Fähre zu überwachen hatten. Die französischen Zollbeamten (Douaniers) gehörten zur Armee und hatten militärische Dienstgrade und Uniformen. Zu dem Krudenburger Zollposten gehörte auch der Douanen-Prepose“ (Zollaufseher) Louis Francois Felix Royer, geboren 1786 in Bour-mort (Departement Haute-Marne) als Sohn eines Bauern. Als er in Krudenburg war, lebte dort auch der wohlhabende Bauer und Wirt Peter Benninghoff, der aus einer alten Hünxer Familie stammte und nach Krudenburg eingeheiratet hatte. Royer lernte die junge Benning-hoff-Tochter Anna Sybilla kennen. Es entspann sich ein Liebesverhältnis, und beide kamen überein, zu heiraten. Die Eltern Benninghoff und auch der verheiratete Bruder Albert B. waren als streng protestantische und preußisch-patriotische Bauernfamilie gegen eine Heirat ihrer einzigen Tochter und Schwester mit einem, noch dazu katholischen, französischen Vaterlandsfeind“. Die Benninghoffs hatten allerdings, wie so viele andere, auch schlechte Erfahrungen mit den Franzosen gemacht. So hatte ein Offizier einmal von Albert Benninghoff verlangt, ihm sein wertvolles Pferd zu verkaufen, von dem er sich nicht trennen wollte. Als er sich weigerte, hatte der Franzose ihm gesagt: Glauben Sie, wenn ich meinen Leuten sage: steckt das Haus in Brand, daß sie es tun werden?“ Mit dieser offenen Drohung hatte er Albert Benninghoff schließlich  gezwungen, ihm das  Pferd doch zu verkaufen. Es war eben Krieg, und die Preußen hätten es im umgekehrten Fall vielleicht auch nicht anders gemacht. Jedenfalls hatte dieses Ereignis mit dazu beigetragen, daß man die Franzosen als Unterdrücker“ betrachtete und macht es verständlich, daß Benninghoffs ihre einzige Tochter und Schwester keinem Franzosen zur Frau geben wollten. Anna Sybilla hielt aber zu ihrem Franzosen, dem man daraufhin das Haus verbot. Da sie keine andere Möglichkeit sahen, kamen die beiden Liebenden überein, eine Entführung zu inszenieren. Eines nachts ließ Royer das Mädchen mit dessen Einverständnis durch einige Soldaten gewaltsam aus dem Haus holen. Vor die Schlafzimmertüre des Bruders wurden in eindrucksvoller Weise Posten gestellt, die vorgaben, Schießbefehl zu haben, wenn er sich der Herausgabe der Schwester widersetzte. So nahm das Schicksal seinen Lauf. Anna Sybilla verließ das elterliche Haus und kehrte niemals  dahin zurück.

Da sie erst 23 Jahre alt und somit nach dem damals geltenden Recht noch nicht großjährig war, mußte sie die Einwilligung der Eltern zur Heirat haben. Die Eltern weigerten sich aber nach wie vor, ihre Zustimmung zu geben. Daher hat sie, um den Vorschriften des Code-Napoleon“ (napoleonisches Gesetzbuch) gerecht zu werden, dreimal in ehrerbietiger Weise“ versucht, die Einwilligung der Eltern doch zu erhalten. Zu diesem Zweck begab sich in ihrem Auftrag der kaiserliche“ Notar Bernhard Joseph Averbeck aus Rees am 21. September, 21. Oktober und 21. November 1812 nach Krudenburg. Die Eltern blieben aber bei ihrer Weigerung und erklärten jedesmal, daß Sie Ihre Einwilligung zu der von Ihrer Tochter beabsichtigten, von mir Notar vorgetragenen, Heyrath mit dem Ludwig Franz Felix Royer auß bewegenden Gründen, unter andern auch deßhalb nicht zugeben könnten, noch wollten, weil Sie diese Persohn von Hauß auß nicht kennen und glaubten, daß solche ihre Tochter nicht standesgemäß ernähren könnte.“

Über jeden der Besuche des Notars bei den Eltern wurden Urkunden angefertigt, die sich heute noch bei den alten französischen Standesakten im Personenstands-Archiv Schloß Brühl bei Köln befinden.

Nachdem so den Vorschriften des Gesetzes Genüge getan war, haben die beiden Brautleute dann am 23. Dezember 1812 vor dem Beygeordneten der Munizipalität Schermbeck, Anton Hedding“ geheiratet. Darüber wurde im Heiratsregister ein langer Akt eingetragen, der sich ebenfalls noch im Schloß Brühl befindet. Trauzeugen waren Alexandre Joseph Ribeaucourt, Douanen-Prepose in Schermbeck, Francois Milhomme, Douanen-Prepose in Schermbeck, An-toine Isidore Denis Großet, Soulieutenant des Douanes in Bricht und der Wirt Johann Hendrich Felderhoff aus Bricht. Die Trauung wurde nach dem seit der Revolution in Frankreich geübten Brauch nur standesamtlich vorgenommen. Eine kirchliche Trauung war jedenfalls bei keiner der infrage kommenden evangelischen und katholischen Gemeinden zu finden.

Das Ehepaar Royer soll zunächst in Krudenburg gewohnt haben. 1813 lebten die Royers in Wesel, wo sie in der Kurze-Straße (rue courte) wohnten. Anscheinend hat Royer sich, wohl aus verständlichen Gründen, nach dort versetzen lassen. Am 29. Mai 1813 wurde ihnen ein Sohn Peter Nikolaus (Pierre Nicolas) geboren. Die Geburtseintragung findet sich in den französischen Standesregistern der Mairie Wesel (Personenstandsarchiv Brühl). Das Kind wurde am 1. Juni 1813 in der Kirche St.-Maria-Himmelfahrt zu Wesel katholisch getauft. Die Mutter starb im Kindbett am Nervenfieber. Sie soll ihre Eltern vor ihrem Tode gebeten haben, sie doch einmal zu besuchen, was diese aber in ihrem Starrsinn mit der Begründung ablehnten, sie hätten keine Tochter mehr. Der Bruder Albert und seine Frau haben sich ihrer aber doch erbarmt und sie bei ihrem Besuch sterbend vorgefunden. Royer, der sich als Soldat um den Säugling nicht kümmern konnte, übergab das Kind in die Obhut seines Schwagers, der es mit nach Krudenburg nahm. Es wird erzählt, daß seine Frau, die gerade selbst ein Kleinkind hatte, in aufopfernder Weise das eigene Kind entwöhnt und den Säugling der Schwägerin an die Brust genommen habe. Anna Sybilla starb am 8. Oktober 1813 und wurde in Drevenack beerdigt. Sie war erst 24 Jahre alt.

Die von den Franzosen besetzte Festung Wesel war um diese Zeit nach dem verlorenen russischen Winterfeldzug und dem begonnenen Freiheitskrieg als eines der letzten französischen Bollwerke schon von allen Seiten bedroht. Nach der Kapitulation Wesels im April 1814 mußte Royer dann mit den zurückflutenden französischen Heeren Wesel verlassen. Seinen kleinen Sohn konnte er natürlich nicht mitnehmen. Er wurde in die Familie seines Onkels Benning-hoff aufgenommen und als Pflegesohn zusammen mit dessen eigenen Kindern evangelisch erzogen. Er wurde also keinesfalls von seinem Vater einfach im Stich gelassen, wie aus einer gewissen Familienanimosität heraus oft behauptet wurde, sondern dieser war durch die kriegerischen Ereignisse eben gezwungen, das Kind in der gesicherten Umgebung der Familie seines Schwagers zurückzulassen. Er soll überhaupt trotz der etwas gewalttätig erscheinenden Entführung seiner Frau ein sehr guter Mensch gewesen sein, der so garnicht in das Zerrbild paßte, das man sich damals von einem französischen Vaterlandsfeind machte. Er reiste in der ersten Zeit mindestens einmal jährlich von Frankreich nach Krudenburg, um seinen Sohn zu besuchen. Da ihm aber zunächst verboten war, das Benninghoffsche Haus zu betreten, kam es vor, daß er manchmal vom Lippedamm aus sein Kind aus der Ferne sehen konnte. Anscheinend ist das Hausverbot später nach dem Tode seines Schwiegervaters Peter Benninghoff (1825)  etwas gelockert worden. Es wird von einem  seiner späteren Besuche in Krudenburg erzählt, daß sein Junge bei seiner Ankunft gerade auf dem Kirmesplatz war und man das Kind nur mit Mühe nach Hause holen konnte, um seinen Vater zu begrüßen. Sein deutsch nur radebrechender Vater war ihm natürlich fremd geworden, und er fühlte sich zwangsläufig wohl mehr zu seinen Pflegeeltern Benninghoff hingezogen. Royer hat dies wbhl eingesehen und davon Abstand genommen, das Kind aus seiner vertrauten Umgebung herauszureißen und es mit nach Frankreich zu nehmen. Aus diesem Grunde sind nach Heranwachsen des Sohnes die Besuche des Vaters wohl auch eingestellt worden.

Daß er ein guter Mensch war, bezeugte später auch eine alte Frau aus Krudenburg, die ihn kannte und ihn bei seinem letzten Besuch noch ein Stück Weges begleitet hatte, wohl auf dem Wege zur Postkutsche in Peddenberg, von wo er über Wesel nach Frankreich zurückkehrte.

Royer blieb aber auch später noch in brieflicher Verbindung mit seinem Sohn. Im deutschfranzösischen Krieg 1870/71 nahmen an der Schlacht bei Sedan auch zwei Benninghoff-Söhne teil. Royer lebte damals als über 8ojähriger in der Nähe von Sedan. Er soll um diese Zeit geschrieben haben, wenn er gewußt hätte, daß Verwandte seiner ersten Frau auf dem Schlachtfeld gewesen wären, würde ihm kein Weg zu weit gewesen sein, diese aufzusuchen. Über seinen weiteren Verbleib in Frankreich ließ sich feststellen, daß er um 1835 Lieutenant des Douanes in Carignan (Ardennes) war. Kurz vorher hatte er zum zweiten Mal geheiratet (Marie Catherine geb. Bertrand). Aus dieser Ehe ging eine einzige Tochter (Marguerite Melanie) hervor. Letztere wohnte als Ehefrau des Zollbeamten Thierry Ende der siebziger Jahre in Doncherie (Ardennes) und stand mit ihrem deutschen Halbbruder auch noch in brieflicher Verbindung. Der Vater Louis Royer starb am 13. 11. 1873 in Margut bei Sedan als pensionierter Zoll-Lieutenant. Er hat somit ein Alter von 87 Jahren ereicht, so daß er seine erste Frau Anna Sybille um 60 Jahre überlebt hat.

Der Sohn Peter Nikolaus Royer (+ 1882) war später Postmeister und Landwirt (Gemeindeverordneter), in Drevenack und wohnte dort im Haus Nr. 71, dem alten, 1899 abgebrannten Posthaus (s. Aufsatz Anno dazumal in Peddenberg“ im Heimatkalender 1967). Er hatte einen einzigen Sohn aus erster Ehe Gustav Royer (geb. 1838) , Landwirt in Krudenburg, der 1895 ohne Nachkommen starb. Von seinen drei Töchtern aus zweiter Ehe heiratete die eine den Hünxer Bauunternehmer Ernst Bönneken (Großvater des Verfassers).

Auch die anderen beiden Töchter heirateten in niederrheinische Familien ein.

Der Familienname Royer ist in der Namenslinie in Krudenburg und Drevenack ausgestorben und dort sicher längst in Vergessenheit geraten. Das französische Blut des napoleonischen Zöllners lebt aber in den Nachkommen seiner Enkelinnen bis heute fort.

 

 

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