Die Heimat lässt dich nicht Heimatkalender 1968
von A. W. Scholten
Der Heimatgedanke in einer veränderten Welt
Das ist des Landes eigene Art, die lernt man nach und nach verstehn, daß in den flachen Weiten, verborgen in den Breiten, die tiefen stillen Ströme gehn.
Otto Anthes
Beim Erscheinen eines Heimatkalenders mag manche zeitgenössische kritische Frage nach dem Sinn eines solchen Unterfangens aufkommen. Sie werden sicherlich alle berechtigt und begründet sein. Die folgenden Ausführungen mögen als ein Versuch gesehen und gewertet werden, sich mit einigen Gesichtspunkten aller um den Heimatgedanken sich rankenden Fragestellungen und modernem Zeitgefühl entspringenden Zweifeln und Kritiken auseinanderzusetzen. Es sei dabei gestattet, sich zunächst dem Bild der sich wandelnden Welt zuzuwenden. Im Zeichen beginnender Weltraumfahrten schrumpfen selbst riesige Entfernungen innerhalb der Kontinente des Erdballs und über die sie trennenden Weltmeere vor den schon existierenden Hochleistungen und den zu erahnenden, noch besseren Möglichkeiten modernen Weltverkehrs mehr und mehr zusammen. Mit dieser Entwicklung geht ein unaufhaltsames Näherrücken der Völker und Völkergruppierungen Schritt für Schritt einher. Die vielfältigen Arten verschiedener Lebensvorstellungen und Lebensweisen sind für jeden interessierten Betrachter an jedem beliebigen Punkt des Erdballs trotz aller Buntfarbigkeit einer solch riesigen Gesamtpalette allmählich immer überschaubarer. Die technischen Vollkommenheiten des Nachrichtenaustausches mit Hilfe der sogenannten Massenmedien (Presse, Film, Funk und Fernsehen), die man auch geheime Miterzieher“ aller Völker nennt, verhelfen dazu in erheblichem Maße, mehr als früher je möglich schien, über den heimischen Zaun hinweg, den Blick in die Welt zu tun. Mir will es scheinen, daß der ungeheure Wandel unserer hochtechnisierten Welt an der Schwelle des Atomzeitalters und im Angesicht beginnender Weltraumfahrt nicht ohne nachhaltigen Einfluß auf das innere und äußere Verhalten der Menschen untereinander bleiben wird. Ein stetig und unaufhörlich anwachsendes Maß an Kenntnissen voneinander, zunehmender Verflechtung und Berührung der mannigfaltigen menschlichen Interessen- und Lebensgebiete werden als notwendige Vorleistung vor den Jahrhunderten der Zukunft eines Tages über alle politische Rivalität, über alle rassischen, nationalistischen und religiösen Gegensätze und Streitfragen triumphieren und die endgültige Befriedung des humanitären Ausgleichs der einen Menschheit herbeiführen können. Dieser Optimismus als gläubige Grundhaltung an die humanitäre Entwicklung und Zukunft der Menschheit erscheint mir allerdings hierfür wie eine notwendige Voraussetzung. Die aus ihm resultierenden Verhaltensweisen aller, in der Verantwortung eines jeglichen Individuums vor dem von ihm bejahten oder nicht bejahten, dennoch waltenden Gott ermöglichen allein diesen Weg der gesamten Menschheit in eine glückliche, d. h. friedvolle Zukunft. Alle anderen Schritte aus Gesinnungen des Gegensatzes um jeden Preis oder die Auswüchse aller politischen Leidenschaften zwischen den Völkern führen Wege unheilvollen Wahns und beschreiten die gefährlichen Gipfelpfade am Rande des Abgrunds des Verfalls und der Vernichtung für die Menschheit. Sicher ist unsere gegenwärtige Welt noch leidvoll genug überschattet von Kriegen und Kämpfen an den bekannten Brennpunkten des Zusammenpralls der Interessengegensätze der Weltmächte oder in den verschiedenen Gefahrenzonen der nationalistischen Auseinandersetzungen. Schauerlich drohend hängt über uns immer noch das Damoklesschwert eines möglichen 3. Weltkrieges. Aber trotz aller dieser Tatsachen einer politisch, militärisch und weltanschaulich-geistig gespaltenen Welt, trotz der ungesunden Verhältnisse zwischen wirtschaftlicher Hochleistung, Reichtum und Sattheit einiger, bitteren Hungers, der Armut und mühsamen Entwicklung vieler Völker, leuchtet der Menschheit das Licht gläubigen Vertrauens in eine bessere Zukunft, die gemeinsam über alle rassischen, nationalen und religiösen Widersätzlichkeiten hinweg gestaltet werden will. Vor den ungeheuren Aufgaben des 21. Jahrhunderts mit seinen 6 Milliarden und mehr Menschen, vor den Ernährungs- und Siedlungsproblemen gigantischen Ausmaßes in der Verantwortung vor dem gestellten Ziel, diese nur zu erahnende Zukunft zu meistern, sollten eines Tages alle kleineren menschlichen und politischen Streitursachen zwischen den Völkern verblassen und dem Nichts der Bedeutungslosigkeit anheimfallen. Unter den gewaltigen Erschütterungen, die Erdball und Menschheit namentlich in den letzten Jahrzehnten erlebten, unter dem Eindruck und dem Ergebnis der durch fortschrittliche Forschung und Technik herbeigeführten umwälzenden Veränderungen, wandeln sich mit dem Weltbild auch vielerlei alte, über Generationen gültige Vorstellungen und geschichtlich gewachsene Begriffe. Sehr viele überkommene traditionsgeheiligte Werte rücken im hellen Licht unserer sehr materiell und rationell geprägten Wirklichkeit in die Unausweichlichkeit nüchtern-sachlicher Überprüfung und strenger Kritik. Mit der gerade für unser Volk und seine Jugend so bedeutsamen Frage, wie weit nach den unseligen Erfahrungen der jüngsten deutschen Geschichte Tradierungen im Bereich des Nationalen und nationalistische Einstellungen überhaupt noch vertretbar seien, beginnt m. E. auch die Berührung dieser Themengebiete mit der Sache des Heimatgedankens und der besonderen, in Heimatliebe und Heimatgefühl wurzelnden Lebenseinstellung. Die Diskussion um Wert und Unwert, Berechtigung und Nicht-Berechtigung eines irgendwie gearteten Nationalismus im Rahmen einer Welt, die Frieden und Ausgleich zwischen den Nationen anstrebt, ist in vollem Gang (siehe z. B. Veröffentlichungen über Nation und Nationalismus“ von Prof. Eugen Lemberg, Junge Generation und nationales Erbe“ von Herbert Eichmann, Nationalismus als pädagogisches Problem in Deutschland“ von Kurt Fackiner, Aufsätze von Bundestagspräsident Dr. Eugen Gerstenmeier und Generalleutnant Wolf Graf Baudissin zum gleichen Themengebiet, alle erschienen in verschiedenen Folgen aus Politik und Zeitgeschichte“, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament“ im Sommer 1967). Stellung zu dieser Frage zu nehmen, kann nicht Aufgabe dieses Aufsatzes sein. Ich berühre sie nur, weil m. E. zwischen den Begriffen Heimat und Nation Bindungen bestehen, weil mir der Weg des Einzelnen zu Volk und Nation immer doch über die Verwurzelung aus dem Heimaterlebnis zu führen scheint. Wir möchten sicherlich alle gern den oben genannten Autoren bei der Feststellung beipflichten, daß ein Wiederaufkommen eines exzessiven Nationalismus in Deutschland als ein nach allem Vorhergesagten unsinniges Übel empfunden und auf jeden Fall verhindert werden müsse. Wertvoll und notwendig aber für die Entfaltung und Erhaltung einer echten Demokratie ist die aus freier Entscheidung geborene Einstellung des einzelnen Deutschen zu seiner Nation, zu seinem Staat, die ihn in freiwillig übernommener Verantwortung in seinem Volke sowohl mit gemeinschaftsbezogenen Pflichten als auch individuellen Rechten ausstattet. Eine solche aus Wissen, Einsicht, Erkenntnis und freimütiger Entscheidung erwachsende Bereitschaft für die Demokratie ist erforderlich, weil eine demokratische Gesellschaft ohne ein gewisses Engagement ihrer Mitglieder nicht leben kann und weil sich die Demokratie nun einmal auf der Basis von Staaten und Nationen abspielt.“ (Aus Politik und Zeitgeschichte“, B 31/67 v. 2. 8. 67, S. 3.)
Wahre Demokratie wächst auf dem Boden des Mittuns und Sichengagierens aller Individuen der sie tragenden Gesellschaft in den geschichtlich gewordenen, größten natürlichen Gemeinschaften der Völker. Volk und Nation aber finden ihren Wurzelboden, ihre Nahrung und Kraft in den heimatgebundenen Landschaften und Räumen der zur Nation integrierenden Stämme, Völkerschaften oder sonstigen Gruppierungen. Nach diesen Feststellungen mögen nun auch unserer Zeit der Sinn heimatkundlicher Forschung, die liebevolle Pflege des Heimatgefühls und die Bewahrung heimatlicher Werte einleuchtend werden. Erlaubt sei es, hierzu Romano Guardini, den großen Denker und Religionsphilosophen, zu zitieren: Das Wesen des Landes muß uns aufgehen, wir müssen es fühlen und mit ihm verwachsen. Fühlung bekommen mit den Eigenarten und Verschiedenheiten der einzelnen Landesteile. Fühlung mit Pflanzen und Tieren, Fühlung mit den Menschen . . ., mit Volkssitte und Überlieferung; mit Gewerbe und Handwerk, Industrie und Handel; mit der Sprache. Dann sind Städte zu kennen, Häuser, Brücken, Tore, Kirchen; Dichtung, bildende Kunst und Musik.“ (Romano Guardini, aus Staat in uns“, Briefe über Selbstbildung.)
Schon im frühen Kindesalter beginnt dieses Hineinwachsen in die reiche Erlebniswelt, in das Wesen des engeren Lebensraumes der Heimat. Dem Tag um Tag, Jahr um Jahr anwachsenden Schatz im Erkennen, staunendem Erfahren und naiv-gläubigen Erleben vielgestaltiger Umweltgegebenheiten im häuslichen Kreise, in Dorf und Stadt, in Feld und Flur und Wald erschließt sich begierig und inbrünstig die ganze aufnahmebereite Kindesseele, die hierbei von Eltern und Erziehern in aller pädagogischen Verantwortung behutsam geleitet werden will. Zwar noch ohne große Reflexion, jedoch mit bleibender Wirkung eratmen Herz und Sinn in diesen jungen Jahren schon die ganze Schönheit dieser wunderbaren Welt. So wird, um mit Eduard Spranger zu sprechen, zunächst noch unbewußt, dafür umso sicherer lebenslang prägend Heimat zum geistigen Wurzelgefühl“ des heranwachsenden Menschen. Der Raum, den das Kind mit ersten bewußten Schritten durchmißt, an den sich seine frühen Erinnerungen und Erlebnisse knüpfen, das ist Heimat.“ (Wilh. Helf, Der Mensch und die Heimat“, Rh. Heimatpflege H/1965, S. 143). Wer möchte wohl nicht wahrhaben, daß die ersten schönen Eindrücke erwachender Sinne aus Kinder- und Jugendtagen zeitlebens zum Schatzkästlein sorgsam gehüteter Erinnerungen werden? In dieser oder jener Zusammenstellung und Auswahl sind sie der geheimnisvolle Urgrund mancher seelischen Stärke in sich und zugleich der Schlüssel zu freimütiger Weltoffenheit. Aus tiefer, ehrfürchtiger Scheu vor Blume, Erde, Baum und Tier, an Bild und Beispiel gütiger, vorbildlicher Menschen formen sich in der frühen Nestwärme heimatlich-heimischer Geborgenheit die Keimkräfte edlen und wahren Menschentums.
So bilden sich aus echter Heimaterfahrung, aus Heimatgefühl und Heimatliebe die starken, kraftspendenden Wurzeln, die den Baum des Volkes als Nation über Stämme und ihre Landschaften hinweg mächtig und frei emporstreben lassen. So mag auch Nation und Nationalismus unter Völkern heute recht gesehen sein:
Wer ohne Überheblichkeit und Prahlerei maßvoll als Volk sich selbst und auch dem Wohl der Welt den eignen Wert einsetzen kann, wird Recht und Raum, Wohlstand und Würde andrer Völker gern und neidlos um sich gelten lassen.
Es ist nicht wegzudiskutieren: Der Mensch ist nun einmal ein Wesen, das wurzelhafte Bindungen braucht! Alle Kriegsgefangenen, alle Heimatvertriebenen können bestätigen, wie unzerstörbar vor ihrer Seele das Bild der Heimat gerade in den Stunden größter körperlicher Not und seelischer Bitternis trost- und mutspendend aufleuchtete. Als Urlauber im Kriege pflegte ich die letzte Strecke über Oberhausen Wesel, die mich mit jedem Schienenstoß dem Heimatort näherbrachte, stehend am Fenster zuzubringen. Es war nicht nur die Unruhe der Erwartung auf das ersehnte Zuhause, auf das Wiedersehen mit den Lieben allein! Es war im stetigen Näherkommen stille, beglückende Zwiesprache mit Bekanntem und immer Bekannterem: Die vorüberfliegende Landschaft, Häuser und Fabriken, Busch und Baum und Strauch schienen im Rhythmus des stampfenden Zuges brausend im Chor alle zusammen zu rufen: Daheim, daheim, daheim!
Im Oktober 1955, bei der Rückkehr aus über zehnjähriger russischer Kriegsgefangenschaft, über die Autobahn von Friedland her nahmen meine Sinne und Augen, je mehr wir uns der Heimat näherten, sofort alle baulichen Veränderungen im Landschaftsbild mehr verwundert oder enttäuscht als erfreut wahr. Wirkten sie doch gewissermaßen wie Störungen des jahrelang vor dem geistigen Auge kostbar gehüteten Heimat- und Sehnsuchtsbildes! Auch die in unseren Tagen heranwachsenden Kinder speichern mit zunehmender Sinneskraft die Schönheitsempfindungen und -eindrücke der erhabenen Welt unseres Schöpfers. Im Nachhall alles dessen erahnen sie, wie ehedem auch wir, was ihre Seele groß und weit und gut machen kann.
Es ist an uns, kindlich-gläubiges Erstaunen vor Morgenröte und Sonnenuntergang, dem Blütenwunder des Kirschbaumes, der Gnade der Christgeburt angesichts des Lichterbaumes, vor den Farbwundern des taumelnden Schmetterlings, vor bunten Frühlingswiesen und einem goldüberglänzten Oktobertag in gütiger Weise zu lenken und so entfalten zu helfen, daß sich daraus die nie versiegende Quelle eines Gott und dem Mitmenschen zugewandten humanistischen Geistes ergießen möge.
Allen Berufenen sollte es Aufgabe bleiben, die in allen Menschen verankerte Heimatliebe immer wieder anzusprechen und dieses Ursprungsgefühl edler, wahrer Menschlichkeit zu hellem Bewußtsein zu entfachen. Mit dem, was Heimat uns ist, sich hier und heute, mitten in einer Welt technisch-physikalischer Umwälzung zu befassen, bedeutet nun nicht, allein beim Alten, bei der Welt des Vergangenen, besinnlich stehenzubleiben. Es geht in Anliegen und Inhalt dieses Kalenders darum, den Griff ins volle und pulsierende Leben der Gegenwart zu tun, wohlwissend jedoch dabei, daß alles wertvolle Heutige dem Guten versunkener Zeiten irgendwie verbunden und entsprossen ist. Wurzeln, die aus dem Jetzt noch saft- und kraftschöpfend in den Boden vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte hinunterreichen, bieten wohl die Gewähr, daß sie einen kräftigen, blühenden Baum in die Zukunft emportreiben und auch tragen werden können.
Was man als Niederrheiner stolz empfinden kann, sollte man herzlich offen bekennen: Unsere Heimat ist schön! Der Kreis Rees als Teil des Niederrheins mit seiner vom Rheinstrom und der Rheinniederung beherrschten Landschaft ist in der hier vorwiegenden Lichtstimmung pastellfarbener Töne so reich und vielgestaltig im Wechsel von Siedlungen, Gewässern, Feldern und Auen, Wiesen und Wäldern, seinen schmucken Städten und Dörfern, einsamen Höfen mit hohen Bäumen, alten Kirchen, Burgen und verträumten Schlössern. Die schier unendliche, von der Himmelsglocke überwölbte Ebene erscheint Wie eine von Horizont zu Horizont gespannte Brücke der Weite und Stille, die in heiter-besinnlicher Weise irdisch-menschliche Stimmungen mit der Erhabenheit göttlicher Allmacht wohl zu verbinden vermag. Wer über die Ereignisse der großen Welt, die Interesse und Anteilnahme heutzutage so oft und so sehr gefangen nehmen, sich Herz und Sinne für Stimmen und Eindrücke der Nähe, der Heimat, zu bewahren vermag, wird beim sommerlichen Gang durch die Gefilde dieser Landschaft, auf mancherlei heimischen Heidewegen, wie in beseligender Bestätigung Wahrheit und Wohlklang dichterischer Worte auch für den Bereich unserer Heimat gelten lassen: