Protestanten

J.F.G. Goeters

DER PROTESTANTISMUS IM HERZOGTUM KLEVE IM 17. JAHRHUNDERT. KONFESSIONELLE PRÄGUNG, KIRCHLICHE ORDNUNG UND STELLUNG IM LANDE

Ein Vortrag, gehalten im Rahmen der Festveranstaltung anlässlich der Vorstellung der “Lydia und Heinz Rühl Stiftung” am 12. Oktober 1995 im Wasserschloss Haus Voerde. Die Druckfassung des Vortrags, herausgegeben von den Kuratoren Friedrich Blum und Walter Jansen, ist im Juni 1996 erschienen.

Es hat durchaus einen tieferen Sinn, über den Protestantismus in Kleve ausgerechnet im 17. Jahrhundert zu sprechen. Im 17. Jahrhundert nämlich haben sich, lässt man dabei die späteren industriellen Ballungsgebiete wie Duisburg, Oberhausen und Dinslaken beiseite, in unserer Region die Konfessionsverhältnisse für die Dauer herausgebildet. Der Protestantismus ist im 16. Jahrhundert, in der Reformationszeit, entstanden und hat im 16. Jahrhundert auch im klevischen Land Boden gefasst, zuerst in lutherischer Gestalt, dann aber überflügelt vom Reformiertentum und auch begleitet von mennonitischen Gruppen. Im späteren 16. Jahrhundert beginnt die Gegenreformation, die Zurückdrängung des Protestantismus, beginnt auch die katholische Erneuerung, für die das Konzil von Trient die Grundsätze festgestellt hatte. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, nach Jahrzehnten harten konfessionellen Ringens, haben die Konfessionsverhältnisse im Lande in aller Regel, von einigen, ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, eine gewisse Stabilisierung erfahren. Jetzt liegt die Konfessionsverteilung fest, das Gesamtverhältnis und die örtlichen und regionalen Schwerpunkte der Konfessionen im einzelnen, und dies für etwa zwei Jahrhunderte, bis die Industrialisierung mit ihren Bevölkerungsbewegungen und Ballungsgebieten in bestimmten Regionen, das sind die großen Städte und ihr Umfeld, der Großraum Duisburg, die ältere Struktur überlagert und verändert. In den ländlichen Bereichen jedoch bleibt es im wesentlichen bei dem alten Stande, wie er sich im 17. Jahrhundert herausgebildet hatte.

Das 17. Jahrhundert hat darüber hinaus eine besondere und weitreichende Bedeutung für die rheinische Geschichte. In ihm ist erstmalig und auf Dauer Brandenburg-Preußen am Rhein präsent geworden. Das ist zuerst, wie wir noch sehen werden, eine etwas mühselige Sache, von einer umstrittenen Erbschaft von 1609 über eine gar nicht erfolgreiche Rivalität, bei der nur niederländische Interventionen den gänzlichen Verlust verhinderten, bis hin zum eigenständigen und kraftvollen Regiment und einer endgültigen vertraglichen Sicherung unter dem Großen Kurfürsten. Brandenburg-Preußen gewinnt nun am Rhein, über alle politischen und militärischen Momente in den wechselvollen Kriegen Ludwigs XIV. hinaus, vor allem in territorialer und konfessioneller Hinsicht entscheidend an Gewicht.

Wir nennen nur die wichtigsten Schritte. Mit der definitiven Regelung der Klevischen Erbschaft im Vertrag von 1666 und dem ihm folgenden Religionsvergleich von 1672 wird Brandenburg nicht nur endgültig Landesherr in Kleve und Mark, sondern auch Schutzherr der Protestanten und dies auch im ehemals gemeinsamen Jülich-Berg. Wegen der klevischen Lehnsabhängigkeiten gilt das auch für die Reste des Protestantismus im westlichen Stift Münster. 1697, zufolge der Konversion Augusts des Starken von Sachsen beim Erwerb der polnischen Krone, rückt Brandenburg endgültig auf zum Vorsitz im Corpus Evangelicorum im Reiche, wird es die protestantische Führungsmacht in Deutschland. 1702 erbt der Sohn des Großen Kurfürsten, der erste preußische König, wegen seiner oranischen Mutter die Grafschaften Moers und Lingen. 1713 im Utrechter Frieden erhält er das westlich anschließende Oberquartier Geldern. Damit ist Preußen als protestantischer Staat am Niederrhein mit großflächigem Landbesitz und in der Grafschaft Mark zwischen Lippe und Ruhr mit einem wirtschaftlich zukunftsträchtigen Schwerpunkt vertreten.

Über diese politische Dimension hinaus hat diese Entwicklung des 17. Jahrhunderts ihre ganz eigene Bedeutung. Im 16. Jahrhundert hatte der Protestantismus in unserer Region nur in Städten die Oberhand gewonnen, in Wesel und in Duisburg, sowie in einem relativ kleinen Territorium, in der Grafschaft Moers, in der Form einer landesherrlichen Reformation des ganzen Gebiets. Ansonsten war er im weiteren Gebiet ein verstreuter Minderheitenprotestantismus. Mit der Ausbreitung der brandenburgisch-preußischen Herrschaft, und das gehört ins 17. Jahrhundert, wird dieser Teil des niederrheinischen Protestantismus aus einer bekämpften Konfession zur bevorzugten des Landesherren. Umgekehrt geht es der katholischen Mehrheitskonfession im Lande. Sie wird aus der herrschenden mit all ihren Prärogativen zu einer in ihrem Besitzstand nur mehr garantierten Konfession, die keine besondere Förderung mehr erfährt, sogar gelegentlich sich gegen Zugriffe der Landesregierung zur Wehr setzen muss.

Das hat auf beiden konfessionellen Seiten dauerhafte Prägungen hinterlassen, eine stärkere Loyalität gegenüber der Landesregierung, ja Anhänglichkeit an das Herrscherhaus auf der evangelischen Seite, hingegen eine betontere Distanz, ja energische Wachsamkeit auf katholischer Seite. Beides ist ein lebendiges und wirksames Erbe der Geschichte insbesondere des 17. Jahrhunderts gewesen, dessen Entstehung und Ausprägung wir uns jetzt vor Augen führen wollen.

Wir wollen im folgenden in drei bzw. fünf Schritten verfahren. Zuerst und in der Hauptsache vergegenwärtigen wir uns in groben Zügen die allgemein politische, staatsrechtliche und konfessionspolitische Entwicklung im Herzogtum Kleve in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bis zur Festigung der brandenburgischen Herrschaft unter Friedrich Wilhelm dem Großen Kurfürsten. Sodann führen wir uns den klevischen Protestantismus vor Augen, nach staatsrechtlicher Stellung, Verbreitung und kirchlicher Organisation, und zwar in seinen drei konfessionellen Gruppierungen: dem Reformiertentum, dem Luthertum und den mennonitischen Gemeinden. Anschließend und gewissermaßen als Summe wollen wir einige Wesensgrundsätze des klevischen Protestantismus und Momente seines Beitrags zur Kultur des Landes zu erfassen suchen.

I. DIE POLITISCHE UND KONFESSIONSPOLITISCHE ENTWICKLUNG IM HERZOGTUM KLEVE IN DER ERSTEN HÄLFTE DES 17. JAHRHUNDERTS

Die klevische Geschichte erfuhr am 25. März 1609 eine einschneidende Zäsur, als mit dem letzten und geistesgestörten Herzog Johann Wilhelm das alte klevische Herzoghaus ausstarb.

Sein Vater, Herzog Wilhelm der Reiche, hatte in seiner Frühzeit seit 1540 in seinen Landen Bestrebungen der Reformation die Zügel schießen lassen, was Wesels Übergang zu lutherischem Gottesdienst zur Folge hatte. 1543 jedoch hatte er im Vertrag von Venlo mit Karl V. einer Begünstigung der Reformation abgesagt und 1548 bei der Ausführung des kaiserlichen Interims allenthalben den katholischen Gottesdienst wiederhergestellt. Seit 1553 und insbesondere seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 lockerte sich erneut die obrigkeitliche Aufsicht, Wesel kehrte zum Protestantismus zurück, Duisburg schloss sich ihm an. Das Kirchenwesen des Landes blieb zwar im Grundsatz durchaus katholisch, aber die Konzession einer deutschsprachigen Taufliturgie und die Erlaubnis der Kommunion unter beiden Gestalten für die, die das begehrten, kamen wichtigen evangelischen Forderungen entgegen. So hat im Jahrzehnt zwischen dem Religionsfrieden und dem niederländischen Aufstand, zwischen 1555 und 1566, der Protestantismus in einer Reihe von Orten, vor allem im Umkreis von Wesel und Duisburg, Boden fassen können, besonders durch weltliche und kommunale Kirchenpatronate. Er hat Pfarrstellen und Kirchen gewinnen können, und dadurch wurde in den mittelalterlichen Pfarrkirchen evangelischer Gottesdienst gefeiert.

Der niederländische Aufstand und seine Unterdrückung durch Herzog Alba seit 1567, zugleich Kleves verstärkte Zuwendung zur katholischen Kirche seit 1571, um das Bistum Münster für einen klevischen Prinzen zu gewinnen, haben sich nicht zuletzt wegen des Zustroms niederländischer Flüchtlinge, die konfessionellen Fronten versteift und den Protestanten erste Unterdrückungen eingetragen. Im klevischen Protestantismus war eben in den 1560er Jahren der Riss zwischen Luthertum und Reformiertentum ans Licht getreten. Die obrigkeitliche Unterdrückung richtete sich gegen die radikalen Flügel des Protestantismus, die Reformierten bzw. Calvinisten, gegen die 1567, im Jahre von Albas Auftreten, das erste herzogliche Mandat erlassen wurde, und die Täufer, die in den Vereinigten Herzogtümern am Niederrhein schon seit 1534 geächtet waren und im späteren 16. Jahrhundert zumeist vom Geiste des Menno Simons geprägt waren. Das Luthertum stand beiseite, zumal von den klevischen Ständen noch zwischen 1580 und 1583 mehrfach die Zulassung der Confessio Augustana im Lande gefordert wurde.

Die weitere Unterdrückung des Protestantismus im Lande erreichte jeweils 1589 mit dem Eintritt Johann Wilhelms, des letzten Herzogs als jungem Mann, in die Landesregierung, mit dem Tode Herzog Wilhelms 1592 und dem Regiment der katholisch gesinnten Räte, schließlich mit der spanischen Invasion in Kleve 1598/99 neue Stufen. Mit dem Tode des letzten Herzogs 1609 befanden sich die protestantischen Kirchen auf einem Tiefstand.

Die Säulen des Protestantismus im Lande waren die Städte Wesel und Duisburg. Sie waren einst lutherisch gewesen, Wesel aber nach 1564 und Duisburg nach 1570 schrittweise zum Reformiertentum übergegangen. Das begann mit der Haltung ihrer Pastoren und ihrer Predigt, die sich den streng lutherischen Grundsätzen entzog. Das fand seinen Ausdruck im Sakramentsgebrauch, in der Reduktion der Taufzeremonien, Verzicht auf die Beichte und auf den Oblatengebrauch beim Abendmahl. Die Gottesdienstform sonst folgte weiterhin dem Kölner Reformationsbedenken von 1543. Es herrschte in diesen Städten ein Ratskirchenregiment, die calvinische Gemeindeordnung mit einem eigenen Presbyterium fehlte. 1609 sind Wesel und Duisburg, beide mit jeweils zwei Pfarrkirchen, die herausragenden Orte mit einem öffentlichen reformierten Gottesdienst in den überkommenen mittelalterlichen Kirchen. Durchgesetzt hat sich das reformierte Bekenntnis darüber hinaus nur im Weichbild von Duisburg, nämlich in Beeck, Ruhrort und Meiderich sowie in der östlich benachbarten und bergischen Unterherrschaft Mülheim-Broich, unter den Grafen von Daun-Falkenstein. Hier überall sind die Pfarrkirchen im Besitz der Reformierten und damit die Gemeinden geschlossen übergetreten. Im weiteren Herzogtum gilt das nur noch für die Pfarre Werth und ihre Filiale Wertherbruch unter den Grafen von Palant-Culenborg, zwischen Rees und Bocholt gelegen, und für Wallach auf der anderen Rheinseite, unter den Herren von Balderich auf Haus Loo. Daneben gibt es noch acht bis zehn reformierte Gemeinden im Lande, die nicht im Besitz der örtlichen Kirchen sind und nur heimlichen Hausgottesdienst halten konnten. Auf sie kommen wir später noch einmal zurück.

Das Luthertum hatte einst in Wesel sein Zentrum gehabt, war aber dann mit dem Übergang der Stadt zum reformierten Bekenntnis dort zur Minderheit geworden und hatte gerade 1608, ein Jahr vor dem Regierungswechsel, ein Grundstück zum Bau einer Hauskirche erlangen können. Die Regel der lutherischen Gemeinden im Lande ist, dass sie die mittelalterlichen Pfarrkirchen übernommen und als ganze Gemeinden evangelisch geworden sind. Das gilt für Isselburg im Norden, im westlichen und südlichen Ring um Wesel herum für Hamminkeln und Brünen, für Drevenack, Schermbeck, Hünxe, Gahlen, für Götterswickerhamm, Hiesfeld und Holten. Beachtung verdient, dass Kirchen wie Isselburg, Götterswickerhamm und Gahlen mit landesherrlicher Stellenbesetzung, Hünxe mit gräflich schaumburgischem und Hiesfeld mit bentheimischem Patronat ganz legal evangelisch geworden und deswegen weithin auch in der Gegenreformation unangefochten geblieben sind.

Auffällig ist, dass in unserer Konfessionsübersicht von 1609 das linksrheinische Herzogtum so gut wie völlig fehlt, obwohl es mit Büderich, Orsoy, Gennep und Goch Orte mit früher evangelischer Gemeindebildung hatte. Hier auf der linken Rheinseite, angelehnt an Wesel und zunächst bestimmt von niederländischen Flüchtlingen, hat sich seit 1573 der reformierte klevische Synodalverband gebildet, in dem seit 1578, der Rückkehr der meisten Niederländer in die Heimat, die einheimischen Gruppen nun organisiert sind. Sie haben in der Gegenreformation entweder, wie in Büderich und Orsoy, den früheren Kirchenbesitz verloren, wie in Goch und Gennep auch die Mitbenutzung der Kirchen, oder einen öffentlichen Gottesdienst sonst nie erlangen können. Intakte reformierte Gemeinden mit heimlichen Hausgottesdiensten sind linksrheinisch Orsoy, Büderich, Xanten und Sonsbeck, sind Uedem, Goch, Gennep, Kalkar und Kleve, rechtsrheinisch noch Rees und Emmerich. Beachtung verdient hier, dass dies alles konfessionelle Minderheiten sind, an einem mehrheitlich katholisch gebliebenen Ort.

Der klevische Protestantismus zeigt sich 1609, nach Reformation und erster Phase der Gegenreformation, in einer ganz eigenartigen Struktur. Rechtsrheinisch haben wir mit zehn Pfarreien ein Luthertum landeskirchlichen Zuschnitts, ganze Orte als Erben der mittelalterlichen Gemeinden. Das rechtsrheinische Reformiertentum zeigt die typische Form des Calvinismus, wie wir sie auch aus Frankreich, Schottland und Polen kennen, mit Schwerpunkten bei Städten mit ihrem Bürgertum und beim Adel. Das linksrheinische Reformiertentum hingegen erscheint, wie das auch beim Täufertum der Fall gewesen war, in einer quasi freikirchlichen Form.

Die klevische Erbfolge von 1609 sah, weil die drei nächstältesten Schwestern des letzten Herzogs mit evangelischen Fürsten verheiratet waren und in den vereinigten Herzogtümern die weibliche Erbfolge galt, mehrere Nachfolgekandidaten. Bevorrechtigte Erbin war die älteste, Marie-Eleonore, die den Herzog Albrecht Friedrich von Preußen geheiratet hatte. Aber in Königsberg fehlte es an einem männlichen Erben. Die Ansprüche gingen mit der dort ältesten Tochter Anna über an deren Mann, den Kurfürsten Johann Sigismund von Brandenburg. Wegen dieses Mangels an männlicher Erbfolge meldete der Mann der zweiten Klever Herzogstochter Anna, der Herzog Philipp Ludwig von Pfalz-Neuburg, Ansprüche an für seinen ältesten Sohn Wolfgang Wilhelm.

In Sachen der Besitzergreifung hatte Brandenburg in Kleve und Berg die Nase vorn, weil der klevische Adlige Stephan von Hertefeld schon Jahre zuvor für den Erbfall zur Besitzergreifung autorisiert war. Der Kurfürst in Berlin entsandte als seinen Statthalter seinen jüngeren Bruder, den Markgrafen Ernst von Brandenburg. Aus Neuburg an der Donau erschien ungesäumt der Erbe selbst, Prinz Wolfgang Wilhelm in Person. Da beide sich kaiserlichen Ansprüchen konfrontiert sahen, die von Spanien aus den südlichen Niederlanden unterstützt wurden, vereinigten sie sich zu einer gemeinsamen Landesregierung und erreichten im Juli 1609 die Anerkennung und Huldigung der Landstände von Kleve-Mark und Jülich-Berg. Bei dieser Gelegenheit verpflichteten sich Brandenburg und Pfalz-Neuburg, die jetzt sogenannten Possedierenden, feierlich, dass sie „die katholische römische wie auch andere christliche Religion, wie sie sowohl im Römischen Reich als diesem Fürstentum an einem jeden Ort in öffentlichem Gebrauch und Übung, zu continuieren, zu manutenieren, zuzulassen und darüber niemand in seinem Gewissen noch Exercitio zu turbieren, zu molestieren noch zu betrüben“.

Diese Erklärung betraf den katholischen und den evangelischen Glauben. Bei der „anderen“ Religion war absichtsvoll offengelassen, ob sich das nur auf das lutherische Bekenntnis oder auch auf das reformierte bezog. Im Reich und in Kleve waren beide in öffentlichem Gebrauch. Beim öffentlichen Gottesdienst, und das schloss Kirchen- und Kirchengutsbesitz ein, sollte es beim Status quo bleiben. Damit stellten die beiden evangelischen Erben vor allem die katholische Seite zufrieden. Aber zugleich garantierten sie auch den evangelischen Konfessionen ihren Besitz an ihren Kirchen. Mit dem Wörtlein „zuzulassen“ war eine Handhabe gegeben, an den Orten, wo Kirche und Gottesdienst katholisch waren ab sofort auch einer konfessionellen Minderheit den öffentlichen Gottesdienst zu gestatten.

Dass die brandenburgisch-neuburgische Regierung dies so verstand, zeigt sich in ihren Mandaten vom September 1609, mit denen sie städtischen Maßnahmen im klevischen Lande zur Unterdrückung des reformierten Gottesdienstes entgegentrat.

Die Gemeinsamkeit von Brandenburg und Neuburg hat, da Moritz von Oranien das von kaiserlichen Truppen besetzte Jülich eroberte und nun Brandenburg allein übergab, nicht lange vorgehalten. Es entwickelte sich eine Fülle von Differenzen wegen der Steuereinkünfte, wegen der Personal- und Verwaltungsregelungen.

Dazu kamen konfessionelle Fragen. Markgraf Ernst trat Pfingsten 1610 in Düsseldorf durch Teilnahme an der Abendmahlsfeier der reformierten Gemeinde als erster seines Geschlechts zum reformierten Bekenntnis über. Im August 1610 gab ein reformierter Kirchenkonvent in Düren mit kurpfälzischer und geldrischer Hilfe den Auftakt zur ersten Generalsynode von Jülich, Kleve und Berg in Duisburg vom September 1610, die mit ihren Beschlüssen die Grundlagen für Lehre, Gottesdienst und Kirchenordnung der reformierten Kirchen am Niederrhein legte. Markgraf Ernst hat 1611, als er seine Residenz nach Kleve verlegte, den Präses der ersten Generalsynode, den Weseler Pastor Wilhelm Stephani, als seinen Hofprediger nach Kleve gezogen. Damit war die reformierte Option Brandenburg offenkundig.

Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg hat demgegenüber die Förderung seines angestammten lutherischen Bekenntnisses zu seiner Sache gemacht. Schon 1611 sorgte er für eine Serie von Anstellungen lutherischer Pfarrer im Lande, so etwa für die eines lutherischen Pfarrers in Kleve und für die Ernennung des Weseler Pfarrers Johannes Hesselbein zum Inspektor aller lutherischen Gemeinden im Herzogtum Kleve. Nachdem die Reformierten 1611 in allen Herzogtümern ihre eigenen Provinzialsynoden gehalten hatten, hat Wolfgang Wilhelm im Sommer und Herbst 1612, im Folgejahr, mit Hilfe von Inspektoren der Provinzialkirche und Provinzialsynoden der einzelnen Länder das lutherische Kirchenwesen organisiert. Für Kleve besorgt das eine Synode von Dinslaken im September 1612, auf der aus zwölf Gemeinden unter Inspektor Hesselbein dreizehn lutherische Pfarrer und vier Schulmeister versammelt waren und die ein dezidiert lutherisches Bekenntnis, eine scharfe Abgrenzung gegen reformierte Lehren, annahm.

So hat man in den Jahren 1610 bis 1614 eine kurze Phase klevischer Religionspolitik, in der bei einer Bestandsgarantie des katholischen Kirchenwesens die evangelischen Konfessionen eine Begünstigung erfuhren, die Reformierten von brandenburgischer Seite, die Lutheraner von neuburgischer. Doch halten sich die evangelischen konfessionellen Bodengewinne in Kleve in recht bescheidenem Rahmen. Die Lutheraner haben in Dinslaken die Hospitalkirche zum öffentlichen Gottesdienst gewonnen für eine neue Mehrheitsgemeinde am Ort, die dann ein Jahr später ja Gastgeber der Synode wurde. Und mit einer Gemeindebildung in Xanten-Kalkar, in Kombination der beiden Orte, sowie am Regierungssitz in Kleve ist das Luthertum nun auch auf dem linken Rheinufer vertreten. Erfolgreicher waren die Reformierten. Sie konnten für ihre älteren neun linksrheinischen heimlichen Gemeinden den öffentlichen Gottesdienst gewinnen, in Sonsbeck sogar die Pfarrkirche selbst sowie zusätzlich noch in Zevenaer, Huissen und Griet. Rechtsrheinisch haben sie die früher lutherisch ausgerichteten Gemeinden von Holten und Brünen zum Reformiertentum hinüberziehen und in Dinslaken und Hiesfeld jeweils eine Minderheitsgemeinde begründen können.

1612 zählt man im Herzogtum Kleve insgesamt 106 Pfarr- und Filialkirchen, von denen fast 90 in katholischem Besitz sind. Auf evangelischer Seite insgesamt stehen zwölf lutherische Gemeinden 26 reformierten gegenüber. Das ist mehr als die doppelte Zahl zugunsten der Reformierten. Aber von den zwölf lutherischen Gemeinden haben neun, also fast alle, mittelalterliche Kirchen und zumeist das Pfarrvermögen in Besitz, während das bei den 26 reformierten Gemeinden gerade auf zehn zutrifft, wobei Wesel und Duisburg mit je zwei Kirchen noch die Gesamtzahl weiter reduzieren. Statistische Angaben fehlen uns. Ins Gewicht fallen für die Reformierten vor allen Dingen die größeren Einwohnerzahlen der großen Städte.

Die Bewegungsfreiheit des Protestantismus in diesen Jahren blieb ein Intermezzo, weil die Rivalität der Possedierenden sich dauernd und zwar gerade auch noch konfessionell verschärfte. Weihnachten 1613 trat Kurfürst Johann Sigismund in Berlin nun als der dritte von vier Brüdern zum reformierten Bekenntnis über, zusammen mit seinem Sohn und Erben Georg Wilhelm, der eben 1613 zum neuen Statthalter in Kleve bestellt wurde. Und schon im Sommer 1613 war Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg in München heimlich zur katholischen Kirche übergetreten, hatte im November 1613 Magdalene von Bayern geheiratet, die Schwester von Maximilian I., dem Haupt der katholischen Liga und Bruder des Kurfürsten Ferdinand von Köln. Am 16. Mai 1614 vollzog Wolfgang Wilhelm in Düsseldorf öffentlich seinen Übertritt. Allerdings gab er einen Monat später noch eine öffentliche Erklärung ab, dass er sich an die 1609 mit Brandenburg abgegebenen Religionsreverse weiterhin gebunden sehe.

Mit seiner Konversion hatte Wolfgang Wilhelm die spanische Unterstützung in den südlichen Niederlanden gewonnen. Damit wurde der Niederrhein zum spanisch-niederländischen Nebenkriegsschauplatz, bei sonst bestehendem Waffenstillstand dieser Mächte an der eigenen Grenze. Im August 1614 begann Spinola seinen Vormarsch, nötigte Aachen zur Kapitulation, besetzte den nördlichen Teil des Herzogtums Jülich und dann Orsoy und Rheinberg, Duisburg und schließlich Wesel. Im Gegenzug besetzte Moritz von Oranien für die brandenburgischen Ansprüche Emmerich und Rees sowie das linksrheinische Gebiet bis zur Linie von Goch und Kalkar. Den drohenden Krieg verhinderte der Xantener Vertrag am 14. November 1614, der eine provisorische Landesteilung vornahm. Jülich-Berg kam unter pfalz-neuburgisches, Kleve-Mark unter brandenburgisches Regiment. Keine Einigkeit wurde in der Religionsfrage erzielt. Neuburg trat mit einer neuen Auffassung der Religionsreserve von 1609 hervor, nach der alles beim Stande von 1609 zu verbleiben habe, dass der Reverstext vom „zulassen“ belassen bedeute statt weitere Zulassung vorsehe und dass die evangelischen Zuwächse seit 1609 rückgängig zu machen seien. Während dies in Jülich und Berg unter neuburgischem Regiment und spanischer Besatzung verschärfte Gegenreformation bedeutete, war das im brandenburgischen Kleve wegen der militärischen Besetzung der Landesteile unwirksam. In Wesel unterdrückten die Spanier den Protestantismus, in Emmerich und Rees unterdrückten die Niederländer die Katholiken. Von 1623 bis 1643 hatte die brandenburgische Regierung für Kleve ihren Sitz in Emmerich unter niederländischem Schutz.

Bis zum Westfälischen Frieden von 1648, während der gesamten Zeit des Dreißigjährigen Krieges, hier im Westen noch verschärft durch den 80jährigen Krieg zwischen Spanien und den Niederlanden seit 1566, diktiert das Kriegsgeschehen bzw. bestimmen die militärischen Machtverhältnisse nicht nur die politische, sondern besonders auch die kirchliche Lage. Fast ohne eigenen Einfluß ist die brandenburgische Regierung in Emmerich unter der Statthalterschaft des Kurprinzen Georg Wilhelm 1613 – 1619, bis er in Berlin die Kurwürde erbte, und unter seinem Vertrauten, dem katholischen Grafen Adam von Schwarzenberg 1619 – 1641, der einst bei der brandenburgischen Besitzergreifung hilfreich gewesen war, in den Religionsfragen aber den prokatholischen Neuburger Kurs unterstützte. Brandenburgs Neutralitätspolitik im Dreißigjährigen Krieg machte auch Kleve zum Aufmarsch- und Versorgungsfeld fremder Armeen.

1629 wandte sich das Blatt, als es den Niederländern gelang, den Spaniern Wesel zu entreißen, Rees zur Festung auszubauen und mit Emmerich, Rees und Wesel das rechtsrheinische Herzogtum bis 1672 für ein halbes Jahrhundert zu kontrollieren. Mit der Besetzung des rechtsrheinischen Orsoy und des kurkölnischen Rheinberg rundeten sie das ihnen gehörige, oranische Gebiet mit Moers ab. Und 1632 eroberte Generalstatthalter Friedrich Heinrich von Oranien auch das gesamte Oberquartier Geldern bis hin nach Maastricht. Dies hat die Gegenreformation in Kleve beendet. Im Gegenzug haben die Niederländer in Emmerich, Rees, Büderich, Rheinberg und Orsoy den Katholiken die Kirchen abgenommen und den Reformierten zugewiesen, ein Zustand, der dort fast ein halbes Jahrhundert, bis zum französischen Einmarsch unter persönlichem Kommando Ludwigs XIV. 1672 andauerte.

Seit 1629, seit Wesels Befreiung, kehrte der klevische Protestantismus aus der Verdrängung und dem Untergrund in die Öffentlichkeit zurück, ja er gewann, soweit der niederländische Arm und die brandenburgische Herrschaft reichten, sogar die Unterstützung der Regierenden. Das galt vor allem für die Reformierten, die Konfessionsangehörigen des Landesherrn. Politische Rücksichten, vor allem gegenüber Pfalz-Neuburg, hindern, dass sie ihre Rechte direkt auf Kosten der Katholiken ausdehnten. So gibt es Gemeindeneugründungen in dieser Zeit, 1631 in Weeze, 1632 im münsterischen Bocholt, 1634 in Kervenheim usw. Energisch vergrößerten sich die Reformierten auf Kosten der Lutheraner. In Hamminkeln und Hiesfeld erzwangen sie einen Mitgebrauch der lutherischen Pfarrkirchen, in Krudenburg erreichten sie einen reformierten Schlossgottesdienst auf Kosten der lutherischen Pfarre Hünxe, in Gahlen gar versuchten sie das landesherrliche Stellenbesetzungsrecht auszunutzen, um der lutherischen Gemeinde einen reformierten Pfarrer aufzunötigen. 1632 beantragte die reformierte Synode bei der Landesregierung sogar, künftig alle Regierungsämter in der Zentrale und in dem mehrheitlich katholischen Lande nur mehr mit Angehörigen der reformierten Konfession zu besetzen. Das ist vor allem an der Haltung der Landstände gescheitert. Während die Jahre von 1610 bis 1614 in Kleve die Zeit innerevangelischer Trennung sind, sind die Jahre seit 1630 die eines erbitterten Konfessionskampfes auf evangelischem Boden, dessen Geschichte noch nicht geschrieben ist.

Eine allgemeine Regelung der Religionsfrage bahnte sich erst an, als 1640 in Brandenburg der energische Friedrich Wilhelm, der spätere Große Kurfürst, zur Regierung kam. Dieser hatte 1646 Luise Henriette von Oranien, die Tochter des niederländischen Generalstatthalters Friedrich Heinrich, geheiratet und war von den Generalstaaten zur Vertretung der Schutzrechte der Protestanten bevollmächtigt worden. 1647 schloss er mit Neuburg einen Vertrag, der die provisorische Teilung auf weitere zehn Jahre verlängerte, in der Religionsfrage für die Gesamtlande den öffentlichen und Hausgottesdienst nach dem Besitzstand von 1612 vorsah, aber der jeweiligen Minderheit die Religionsausübung auf eigene Kosten freistellte. Das war ein für den niederrheinischen Protestantismus ungemein günstiges Ergebnis, weil es die Verluste der Gegenreformation im 17. Jahrhundert rückgängig gemacht hätte. Doch das wurde ein Jahr später, 1648, vom Reichsfrieden von Osnabrück überholt, der für den öffentlichen Gottesdienst und den Kirchenbesitz das Normaljahr 1624 vorschrieb, am Niederrhein den Höhepunkt der Gegenreformation. Neuburg trat sofort vom älteren Vertrag zurück und begann neue Einschränkungen des Protestantismus in seinem Bereiche in Jülich-Berg.

Die endgültige Regelung ist erst im September 1666 im Erbvergleich von Kleve zwischen dem Großen Kurfürsten und Philipp Wilhelm von Pfalz-Neuburg erzielt worden, mit der nun dauerhaften Landesteilung, die Kleve-Mark mit Ravensberg definitiv an Brandenburg brachte. Über die Religionsangelegenheiten war zuvor im Februar 1665 ein Vergleich von Dorsten geschlossen worden, der für Jülich-Berg und Kleve-Mark entsprechend den Rechtsauffassungen der Fürsten unterschiedliche Regelungen vorsah. Wegen des Protestes der klevischen Stände und der reformierten Provinzialsynode unterließ der Große Kurfürst die Ratifikation dieses Vergleichs. An seine Stelle trat sieben Jahre später 1672 ein detaillierter Religionsvergleich von Cölln an der Spree. Er setzte für Jülich-Berg das Reichsnormaljahr 1624 als Grundlage für Kirchenbesitz und öffentlichen Gottesdienst, regelte das im Detail Ort für Ort und sicherte der katholischen Seite den vollen Erfolg der Gegenreformation. In Kleve-Mark wurde gemäß den Reversalien von 1609 das Jahr 1609 für Kirchenbesitz und öffentlichen Gottesdienst bestimmend. Darüber hinaus wurde den Evangelischen ihr gegenwärtiger Besitzstand garantiert, also alle seit 1609 erzielten Zuwächse. Katholiken, Lutheraner und Reformierte erhielten bürgerliche Gleichberechtigung und gegenseitige Duldung wurde Pflicht.

Diese Friedensregelung war soeben ausgehandelt, als Ludwig XIV. 1672 mit seinem Heer am Niederrhein erschien und die niederländischen Garnisonen von Orsoy bis Emmerich zur Kapitulation zwang, allenthalben dort den katholischen Gottesdienst in den entfremdeten Kirchen wiederherstellte und das klevische Land besetzte. Die Niederlage des Königs in Holland bewirkte eine spezielle Friedensregelung in den betreffenden Städten. In Wesel wurde der katholische Minderheitsgottesdienst in den alten Ordenskirchen gesichert. In Rees und Emmerich mussten die Reformierten die einst niederländisch besetzten Kirchen herausgeben und wurden in Rees auf ihre ältere Kirche von 1624 und in Emmerich auf einen Neubau beschränkt. In Büderich kam es 1675 zum Kirchensimultaneum, der Chor und ein Teil des Schiffes für die katholische, der Rest des Schiffes für die reformierte Gemeinde. Nur in Orsoy behielten die Reformierten die Kirche, weil sie sie nach 1609 gewonnen hatten.

Mit diesen Staatsverträgen von 1672 und 1673 ist der Konfessionsstand auf Dauer fixiert. Die Aufnahme von Hugenotten in französischen Gemeinden in Emmerich, Kleve, Wesel und Duisburg und die Ansiedlung von Pfälzern auf der Mookerheide in Pfalzdorf hat das nur unerheblich verändert.

II. DIE STAATSRECHTLICHE STELLUNG UND
KIRCHLICHE ORGANISATION DER PROTESTANTEN

Der Protestantismus ist in Kleve in drei Konfessionen vertreten gewesen. Sie gruppieren sich sowohl nach ihrer numerischen Stärke als auch nach ihrer staatsrechtlichen Stellung.

An den Anfang gehören:

1. Die Reformierten

Seit der Regelung von 1614 und 1666 sind sie als Konfession des Landesherren nicht nur anerkannt, sondern auch privilegiert. Mit Ausnahme der großen Städte und einiger weniger übernommener mittelalterlicher Pfarreien bilden sie eine neu entstandene Konfession, die im späten 16. Jahrhundert stark unterdrückt worden war, aber bei so manchen Adelsfamilien Unterstützung gefunden hatte.

Wie in Jülich-Berg so hatte das Reformiertentum auch in Kleve seine calvinische Kirchenverfassung ausgebildet: Leitung der örtlichen Gemeinde durch ein gewähltes Konsistorium (wir nennen das heute Presbyterium), allerdings gewählt nach Kooptationsverfahren (nicht Gemeindewahl wie heute), Wahrnehmung gesamtkirchlicher Aufgaben und Leitung, also aller Bischofsbefugnisse, durch Synoden. Wie berichtet, haben die Reformierten die Chancen von 1609 entschlossen genutzt und mit der Generalsynode von 1610, den jährlichen Provinzialsynoden seit 1611 und den von ihnen gebildeten Classes (wir nennen das heute Kreissynoden) für etwa zehn Gemeinden den Verfassungsaufbau hergestellt. In Kleve gibt es seit 1611 drei Classes, die Weseler, die Duisburger und die Klevische Classe. So findet eine Kirchenvisitation alljährlich für alle Gemeinden in einer gemeinsamen Zusammenkunft statt. Wesel ist, bis zur spanischen Besetzung, das eigentliche Kraftzentrum dieser Kirche gewesen.

Wir haben bereits gesehen, dass schon 1611 mit der Berufung von Präses Stephani zum Hofprediger in Kleve die Verbindung von Landesherr und Kirche hergestellt worden ist. Das ist unter Prinz Georg Wilhelm noch intensiviert worden. Sein Hofprediger Wilhelm Hachinus in Kleve nimmt direkt als Beauftragter seines fürstlichen Herrn an vier aufeinanderfolgenden Provinzialsynoden 1617 bis 1620 teil und übermittelt jeweils die landesherrlichen Botschaften. Beim Ausweichen der Regierung nach Emmerich und unter dem katholischen Statthalter Adam von Schwarzenberg lockert sich das etwas. Die Emmericher Pastoren, unter ihnen etwa der Annalist Werner Teschenmacher, fungieren hier als Verbindungsleute. Doch als Wesel frei geworden war, entsandte die klevische Provinzialsynode den Weseler Prediger Bernhard Brantius nach Berlin, um dem Landesherren die Wünsche zum kirchlichen Wiederaufbau vorzutragen.

Die Verbindung der reformierten Kirche in Kleve mit dem Landesherren ist unter dem Großen Kurfürsten besonders eng geworden. Seinen charakteristischen Ausdruck hat das mit dem Neubau der reformierten Kirche in Xanten gefunden. Sie liegt unweit der Stiftskirche St. Viktor, sozusagen beim katholischen Dom des Herzogtums, am Markt der Stadt, in öffentlicher Lage, erbaut mit Zuschüssen des Landesherren, eingeweiht 1649 in Gegenwart des Kurfürsten und seiner oranischen Gattin. Kurfürst Friedrich Wilhelm hat ältere Stiftungen, die erste Dotationen seines Großvaters von 1613, eine Landtagsbewilligung von 1632 zum kirchlichen Aufbau, mit eigenen neuen Bewilligungen aus landesherrlichen Einkünften aus der Besetzung von Stiftskanonikaten zu einem Aerarium ecclesiasticum zusammengefasst, einer Unterstützungskasse für die reformierten Gemeinden und Schulen. Zur Verwaltung und Mittelvergabe wurde in Kleve 1655 ein Collegium curatorum ecclesiae reformatae, ein gemischtes Kuratorium, zusammengesetzt. Ein Jahr später – 1656 – stiftete er, nach vorlaufenden Verhandlungen mit der Synode seit vierzehn Jahren, in Duisburg eine Landesuniversität, die den akademischen Oberbau zu den reformierten Gymnasien in Wesel, Kleve, Emmerich und Duisburg abgab. Die reformierte theologische und die juristische Fakultät haben im 17. Jahrhundert beachtlichen Rang gehabt, sind aber später ganz in den Schatten der niederländischen Universitäten geraten. 1662 billigte und publizierte der Große Kurfürst eine reformierte Kirchenordnung für Kleve-Mark, zu deren Entwurf 1632 bis 1634 und 1650 bis 1654 synodale Anläufe gemacht worden waren. Sie basierte auf der Duisburger Grundordnung von 1610 und nahm die synodalen Regelungen seitdem in sich auf. Aber in Pfarrdisziplin, Eherecht und bürgerlichen Folgen der Kirchenzucht galten landesherrliche Vorbehalte. Ebenso blieben die Rechte adliger und städtischer Kirchenpatrone gewahrt. Den Widerspruch der Stadt Wesel gegen die Einführung der Kirchenordnung hat der Große Kurfürst in einem auf alle Sachfragen detaillierten Mandat von 1664 zurückgewiesen, wobei er seine Landesobrigkeit und, wie er dann schreibt, „das dieser anklebende bischöfliche Recht und Oberinspektion in Kirchensachen“ stark herausstrich. Das fügt sich ganz in den absolutistischen Zug dieses Regenten.

Die landeskirchliche Natur des klevischen Reformiertentums und seine enge Verbindung mit dem Landesherren sind noch in einer ganzen Reihe von Gemeindeneugründungen im weiteren 17. Jahrhundert und sogar noch im 18. Jahrhundert dienlich gewesen, durchweg kleine Gemeinden, sehr oft an Adelshäuser angelehnt und oft von diesen unterhalten. Die Entstehung von Voerde als einer selbstständigen reformierten Gemeinde gehört in eben diesen Zusammenhang.

An Zahl und Rechtsstellung folgen:

2. die lutherischen Gemeinden

Sie waren durch die Reversalien von 1609 staatsrechtlich voll berechtigt. Aber ihre landesherrliche Förderung unter Wolfgang Wilhelm war nach dessen Konversion entfallen. Die Synode von 1612 fand keine Nachfolge, das Inspektorenamt erlosch schon 1613 mit Hesselbeins Tod. Die vorwiegend ländlichen Gemeinden bestanden je für sich und insgesamt am Rande der Gegenreformation. Auszüge aus der Geschichte der Gemeinden verdeutlichen die Stellung im Lande. Die 1611 begründete Gemeinde Kleve konnte 1624 noch ihre neue Kirche in Gebrauch nehmen. In Emmerich und Rees kam es unter niederländischem Regiment zu Gemeindegründungen, aber nur zum Gottesdienst in Hauskirchen, wie das auch in Wesel der Fall war. Selbsterbaute Kirchen konnten Rees erst 1678, Emmerich 1683, Duisburg erst 1703 und Wesel sogar erst 1729 beziehen. Hier wirkt sich jeweils am Ort der konfessionelle Zwist noch sehr viel länger aus, als es der landesherrliche Wille eigentlich vorsah.

Die übergemeindliche Ordnung des Luthertums ist 1649 mit der landesherrlichen Ernennung des Weseler Pfarrers Wennemar Elbers zum Inspektor erneuert worden. Etwas später als die Reformierten, 1687, haben es auch die Lutheraner zu einer vom Großen Kurfürsten genehmigten Kirchenordnung gebracht. Doch sind hier nicht die klevischen, sondern die zahlreichen märkischen Lutheraner federführend gewesen. Die klevischen Gemeinden sind erst in der Endredaktion überhaupt beteiligt worden. Die lutherische Ordnung basiert auf dem Predigtamt und seinen Befugnissen. Wohl nur die für Mark passende Vorschrift der Classenteilung und die reformierte Analogie haben bewirkt, dass die sechzehn lutherischen Gemeinden in Kleve in drei Klassen eingeteilt worden sind, Kleve, Wesel und Dinslaken, wobei sieben Gemeinden, also fast die Hälfte, auf die eine Classis Dinslaken entfallen.

Die kleinste protestantische Gruppe in Kleve sind:

3. Die Mennoniten

Das Täufertum begegnet uns im Herzogtum Kleve im 16. Jahrhundert so gut wie ausschließlich in Polizeiakten als eine stets verfolgte Unterströmung. Die erste Nachricht über eine Gemeinde haben wir 1591 von Rees, das an einer gesamtmennonitischen Verständigung im Konzept von Köln beteiligt ist. In Wesel konnte kein Täufer Bürger werden, er bekam nicht einmal die Aufenthaltserlaubnis. So hat sich dort keine Gemeinde bilden können.

Das erste klevische Regierungsedikt stammt von 1654, vom Großen Kurfürsten, der die Mennoniten von der Pflicht der Eidesleistung befreite, wie sie bei Gericht und bei der Übernahme öffentlicher Ämter üblich war. Das ist eine direkte Toleranzerklärung. In eben dieser Zeit beginnen in Emmerich die Liste der mennonitischen Pastoren, in Goch die Gemeinderegister. Aus einer königlich-preußischen Regelung von 1721, in der unter dem Soldatenkönig den Mennoniten die Freistellung vom Militärdienst gegen eine jährliche Steuerabgabe gewährt wurde, lernen wir die Mennonitengemeinde Kleves und, aus dem Schlüssel des Steueranteils, in etwa ihre Mitgliederstärke kennen. Die Hälfte der Gesamtveranlagung entfällt auf die reiche und große Gemeinde Krefeld, 40 Prozent gehen zu fast gleichen Teilen auf die Gemeinden Emmerich, Goch und Kleve, und der kleine Rest entfällt dann auf Rees, Duisburg und Hamm in der Mark. 1676 haben sich die Gemeinden Emmerich, 1682 Kleve und 1738 Rees ihr Predigthaus gebaut; über Goch fehlt uns jede Nachricht. Damit schließt sich Kleve unter Brandenburg-Preußen an die oranisch-niederländische und sonst noch kurpfälzische Toleranzpraxis an, die über die bloße Gewissensfreiheit hinaus den Mennoniten sogar ungestörten Gottesdienst in Bethäusern gestattet. Die klevischen Mennonitengemeinden sind im 19. Jahrhundert zusammengeschmolzen und zum Jahrhundertende schließlich aufgelöst worden. Ihr letzter Halt und schließlich ihr Erbe wurde die Gemeinde in Krefeld. Doch ihr Gedächtnis verdient, wachgehalten zu werden.

III. EINIGE CHARAKTERISTIKA DES KLEVISCHEN PROTESTANTISMUS

Wir können uns nach dem bereits Ausgeführten hier kurz fassen.

Der Protestantismus ist im Herzogtum Kleve stets Minderheitskonfession geblieben. Für eine Statistik in älterer Zeit fehlen uns die Unterlagen. Nach dem Stande von 1816 mit exakten Zahlen, und das liegt ja noch vor stärkeren Bevölkerungsbewegungen in der Folgezeit, stehen etwa ein Viertel an Protestanten drei Vierteln der katholischen Mehrheit im Lande gegenüber. Dabei gehört das Gros der Protestanten auf das rechte Rheinufer. Unter den Protestanten wiederum stehen 30 Prozent Lutheraner einer reformierten Mehrheit von 70 Prozent gegenüber. Das numerische Übergewicht der Reformierten resultiert nicht so sehr aus der weitaus größeren Zahl von Gemeinden als vielmehr aus dem Gewicht der Städte Wesel und Duisburg. Die mennonitischen Gemeinden haben insgesamt nur wenige 100 Mitglieder gehabt.

Die Kulturbedeutung des Protestantismus in Kleve ist nicht ohne Zusammenhang mit seiner öffentlich-rechtlichen Stellung zu sehen. Das Reformiertentum als bevorrechtete Konfession des Landesherren hat einen überproportional starken Einfluss auf die Landesregierung gehabt, sowohl durch die meist reformierten Beamten der landesherrlichen Regierung als auch durch den Anteil des Adels in der regionalen Verwaltung. Ins Gewicht fallen für Gewerbe und Wirtschaft die beiden größeren Städte. Einen deutlichen Vorzug hat das Reformiertentum im höheren Bildungswesen gehabt.

Etwas stärker im Schatten des öffentlichen Lebens lebt das Luthertum, das aber in der Mehrheit seiner Gemeinden eine volkskirchliche Struktur entwickelt hat. Es hat seinen frühen eigentümlichen Schwerpunkt im Elementarschulwesen. Auf der Synode von 1612 sind zwölf Gemeinden vertreten, von denen nicht weniger als acht funktionierende Schulen haben, Dinslaken sogar mit zwei Schulmeistern. Stellt man in Rechnung, dass die eben neu begründeten linksrheinischen Gemeinden, 1611 gegründet, 1612 noch keine Schulen haben und in einer weiteren Gemeinde eine Schulmeistervakanz besteht, so hat fast jede lutherische Gemeinde, auch gerade die ländlichen, eine Schule. Das hat auf reformierter Seite dann aber mit landesherrlicher Unterstützung tätige Nachahmung gefunden, aber mit zeitlichem Verzug, bei Neu- und Wiederaufbau des gemeindlichen Lebens nach 1630.

Evangelische Eigentümlichkeiten zeigen sich in der Landeskultur für das 17. Jahrhundert vor allem im Kirchenbau, für eine kunstgeschichtliche Würdigung und eben im Aufbau des Schul- und Bildungswesens für eine sozial- und geistesgeschichtliche Betrachtung.

Hier liegen noch viele Aufgaben für Forschung und Darstellung, die vielfältig sind und für unsere Einsicht lohnend, auch im Sinne der „Lydia und Heinz Rühl Stiftung“. Den evangelischen Beitrag im Gesamtrahmen von Kultur und Geschichte des Landes zu erhellen und fruchtbar zu machen, ist die Absicht dieser Stiftung. Dazu will sie Hilfe und Förderungsmittel bereitstellen.

Der angemessene Dank sollte tätig erstattet werden.

 

 

 

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