Schwarze Heide

                   Die schwarze Heide                                                             Heimatkalender 1955

von Erich Bockemühl

„Was man so die schwarze Heide nennt”, sagt der Bauer. Dann zuckt er mit den Schultern und blickt stumm den Weg hin, der sich bald schon im Dunkel des Waldes verliert. Sein Hof liegt am Rande, und bis zum nächsten Wald drüben auf den Steinbergen ist weit.

Auf den Steinbergen stehen mächtige Kiefern, so, als wenn sie das Land beherrschten. Man sieht sie von sehr weit her, weil das Land eben isr. Die Steinberge, sagt man, seien von einem Gletscher ausgeschüttet worden. Und es mag schon sein; Haufen von zusammengelesenen Steinen, köpf- und faustdicken Kieseln, liegen neben den Feldern. – Zu den Steinbergen sieht der Bauer am Rande der schwarzen Heide auf, denn für ihn ist dort am Horizont dos Ende der für ihn alltäglich sichtbaren Welt. Ober ihm sind die Wolken, der Himmel, abends die Sterne und der Mond. Der Bauer ist ein besinnlicher Mann, von dem man wohl denken kann, daß er abends zuweilen allein hinter der Scheune steht und in die Wolken oder die Sterne sieht. Obwohl er die Wege hinüber sehr wohl kennt und oft gegangen ist, so ist es doch, als habe er sie abends vergessen. Dann ist hinter den Bäumen, die wie ein struppiger Wall, wie eine schwarze Wand da stehen (an den Seiten schimmert ein wenig Licht hindurch) die Welt, die Ferne, der Traum.

Er hat in diesen Hof hineingeheiratet, Bauer Pöttker, wie er heißt, und ob er vierzig Jahre auf ihm wohnt, spürt er immer noch eine leise Fremdheit, vor allem vor dem Walde, der ja nun auch so daliegt, als wenn er kein Ende habe. Mit den Fenstern der rechten Seite horcht das Haus in die verborgene Stille des Waldes, mit denen der linken sieht es über die lichtere Landschaft hin. In weiter Ebene geben buschige, aus vergangener Zeit verbliebene „Landwehren”, Pappelreihen am Rande der Weiden und hohe, die Höfe umschattende Eichen dem Blick bis zum Himmelsende über den waldigen Höhen jenseits des Flusses jene Holte- und Ausruhepunkte, die das Auge liebt.

Einstmals war dies alles Heideland in der Zeit, als der Morgen nicht mehr als der Gewinn eines Kartenspiels mit niedrigem Einsatz wert war. Es war gut, daß der fremde Bauer einheiratete — er kam zwar nicht weiter her aJs aus der Nachbargemeinde. Wenn er nicht gleich unbekümmert mit rücksichtsloser Macht die Führung übernommen hätte, so wäre der einst erworbene Besitz (mit dem angestammten dazu) wie gewonnen, so zerronnen. Die Haiders von einst arbeiteten nicht mehr, als zum Leben dringend nötig war, im übrigen gab es für sie gleicherweise im Sommer wie im Winter nur die Jagd. Ob erlaubter- oder verbotenerweise, danach fragte auch der letzte auf dem Hof verbliebene Monn, der Bruder der Bäuerin, nur wenig, unbekümmert darum, ob man ihn heute mit Recht einen Wilderer nannte. Er kannte dies Recht nicht ah. Er ein Wilderer? Dummes Zeug, er kenne keinen, der den Wilderern so auf der Spur wäre, wie er.   Die Herren aus der Stadt seien schon die rechten Jöger! Der aber, der diese große und reiche Jagd gepachtet hatte, ließ den Alten gewähren und wußte, warum Jan Halders war auch klug genug, in seinen Grenzen zu bleiben. Hätte er allerdings vorher gewußt, daß es ausgerechnet Bargers Henn hatte sein müssen, der den für den Landrat aufgesparten Hirsch geschossen hatte, dann – – – der Landrat aber war ein Graf und hoher Herr. Dem Jäger hätte er den Hirsch bestimmt vor der Nase weggeknallt, so einem Jagdpächter aber der Landrat war ein Königlicher, und dafür war er selbst Soldat gewesen, um vor so etwas Achtung zu empfinden. Gewehr und Jagdtasche hingen für jeden sichtbor im Flur des Bauernhauses. Dem Bauer selber war das nicht recht. Er wies mit der Hand dahin und machte allemal eine unwillige Bewegung, aber ich hing Hut und Stock ohne hinzusehen und ohne etwas zu sagen, daneben. Er mußte den Schwager schon gewähren lassen, denn der war ja der eigentliche Besitzer des Hofes, obwohl er nichts auf ihm zu sagen hatte und auch nichts zu sagen haben wollte. Er war ein gutmütiger, anspruchsloser Mensch und gemütlicher Plauderer, der schwarze Jäger, wie ihn die Leute nannten. „Die Jagdgeschichten mag er selber ausfressen, die gehen mich nichts an. Hoffentlich kommen sie nicht dem Hof selber einmal teuer zu stehen.” Aber der Schwager winkte mit der Hand und lachte.

Den Nachbarn fiel die Büchse im Flur nicht mehr auf, auch dem Postboten nicht, der alle Morgen wegen der Zeitung kam. Und wer kom sonst noch auf den Hof? Man sah mehr Rehe als Menschen, und in den Nächten hörte man oft genug die Füchse bellen. Der Postbote, der selten einen Brief brachte, war selbst die Zeitung des heimatlichen Dorfes und seiner Umgebung. Von dem, was den Bauer und die Bäuerin interessieren konnte, wußte er mehr zu sagen, als in der Zeitung stand. Wenn er kam – immer um dieselbe Zeit – saß allemal der kleine Spitzhund wartend bereit. Und dann gab’s ein Gebell, als wenn Feuer ausgebrochen wäre. Nero, der Jagdhund, sah aus seinem Zwinger hochmütig über die Situation hinweg, aber der Spitz lief kläffend im Abstand des nach hinten gehaltenen und geschwenkten Eichenstockes hinterher. Der Postbote, ein kleiner Mann mit schwarzem Bart, ging vornübergebeugt unbekümmert weiter. Und das war alle Morgen das gleiche, und auch der Weg durch den Hofraum war alle Morgen der gleiche, und jede Bewegung war wie gestern und ehedem, wieviel Jahre schon! Als einst ein jüngerer Postbote mit dem Fahrrad eine Stunde früher kam, machte es den Eindruck, als sei ein neues Zeitalter angebrochen. Ein Tag war sonst dem andern gleich. Die Jahreszeiten wechselten, es wurde gesät, geerntet – und wenn man je und dann einmal bemerkte, daß sich der Bestand der Kühe von sechs auf zehn vergrößert hatte und statt einstmals fünf nun fünfzehn Schweine gefüttert wurden, dann war das alles wie von selbst gekommen, zumal es auch ohne Programm und vorherige Dispositionen, sogar fast ohne zielstrebiges Wollen so geworden war.

Es gab viele Bauernhöfe in der Umgebung des Dorfes, aber diesen einen nur, auf den man den Namen „Schwarze Heide” fast persönlich übertragen hatte. Es gab auch keinen einzigen Hof, der so unmittelbar am Walde lag, an jenem großen dunklen Wald, der nie ein Ende nohm. Es gab auch keine Bauern, die in ihrem Wesen so einsam und verschlossen geblieben waren, wie die am Walde, manchmal wie hilflos, ein wenig mißtrauisch auch und eben doch guten Herzens. Nur der Wilderer war sin gesprächiger Mann, er besuchte öfter die Wirtschaft, die jenseits des dunklen Waldes lag. Es war kein Schild an der Tür „Restauration zur schwarzen Heide” oder wie, eine eigentliche Wirtsstube gab es kaum. Man saß in der Wohnstube, wie man beim Nachbarn auch in der Wohnstube sitzen und Flaschenbier oder Branntwein trinken konnte, nur daß man es hier bezahlen mußte.   Die alte Bauernküche war in dem Haus noch so erhalten, wie sie einst gewesen war. Der Busem war noch über der Feuerstelle, und wo der Herd stand, waren an der Wand zwei gegossene Ofenplatten, die Bilder der Biblischen Geschichte darstellten, und sie waren von echten Delfter Platten eingefaßt. Ober dem Busem mochte man die alten Teller und zinnernen Gegenstände gern betrachten. Der Bauer hatte seinen Tabak und sein Pfeifchen da oben verborgen, trotzdem die Bäuerin schon seit dreißig Jahren dagegen sprach.

Die schwarze Heide war vor der Aufforstung ein wildes und dunkles Land. Ich habe es streckenweise noch in der alten Form gekannt. Birken, Heide, Ebereschen, niedrige, mit den Ästen weit ausholende Eichen, Wacholder, Hülsengestrüpp und dazwischen Heidekraut, Calluna und Erika, die gemeine und die zarte feine Glockenheide. Dazwischen Moore. Krüppelkiefern zur Seite. Im Frühjahr nach der Schneeschmelze machten sich die alten Kolke breit über die Weiden hin, und auch die Wege waren weithin überschwemmt. Als die alte Magd auf dem Hof gestorben war, mußte man streckenweise die Weidenzäune umlegen, um einen Fahrweg ins Dorf zum Friedhof zu bekommen. Nein, die Heide und die Kolke waren gar nicht einverstanden mit den Menschen, die das Bild der Landschaft veränderten und rächten sich oft genug dafür, einmal mit Trockenheit, ein andermal mit Nässe, und der alte Kantor ist noch seinem Besuch aus der Stadt, in der er nun bei der Tochter wohnte, nie mehr wiedergekommen, weil ihm das Land in seiner großen Veränderung nicht mehr hätte Heimat sein können. Er kam sonst alle Jahre und hatte die Bauern zeitlebens gewarnt, die Hof um Hof einfassenden Landwehren abzuholzen und einzuebnen. Jetzt war es bereits so weit, daß der Frühjahrssturm der Ebene den Sand über die Grenze auf die Straßen wehte, daß die Leute ihre Gartenerde mit Schiebkarren wieder dahin fahren mußten, wo sie früher gelegen hatte. Es war eine ärgerliche Geschichte: alles Säen war vergeblich gewesen, man konnte alles noch einmal besorgen und hatte doch ohnehin genug zu tun. Und wie war es früher doch so schön in einsamen Sommertagen zum Herbst hin, wenn um die kleinen Bienenhäuser die Musik des Sommers schwebte . . . das war nun alles nicht mehr. Es war alles nutzbar gemacht und würde noch mehr nutzbar gemacht werden, und die Schönheit, die Romantik ging verloren, unwiederbringlich für nun und alle Zeit.

Ich bin einmal am späten Abend – es war fast Nacht – durch den Wald der schwarzen Heide gegangen. So schön und hell alle Wege, breit genug mit ihren im Sommer bunten Streifen blühenden Heidekrauts und mit den blauen Enzianblüten zwischen der Glockenheide inmitten des Kieferndunkels liegen, so lästig kann es einem am Abend oder in der Nacht werden, über sie hinzugehen, infolge der tief herniederhängenden Zweige. Und wenn es geregnet hat, schlagen sie einem noch mehr ins Gesicht. Und übrigens auch verliert man leicht das Gefühl für die Zeit. Ist man’ eine halbe Stunde oder eine ganze schon gegangen? Solch ein Land soll man ohne Uhr und ohne Zeit durchschreiten.

Einstmals lag die schwarze Heide wie außerhalb des Bereichs der Menschen, und die nahe am Rande wohnten, waren noch so sehr mit der Natur und allem Geheimnis ihres Wesens verbunden, daß sie mitunter selber fast wie Spukgestalten gelten konnten. Und wer weiß, ob sie nicht mehr oder weniger alle noch umgehen in den finsteren Nächten. Ich fürchte mich nicht in der Nacht, und wenn ich mit der Faust meinen dicken Eichenstock umklammere, dann fühle ich mich sicher, mag da kommen, was will. So ein Eichenstock, vom Vater und Großvater geerbt, ist auch so lange durch die Heide und durch die Nächte mitgegangen, daß auch ihm schon etwas Geheimes anhaftet, als wenn ihm eine Macht und eine Kraft innewohne. -Wer weiß, was es ist, und wer es nicht kennt, der lacht darüber, aber es ist so, daß man ihm eine Kraft zutraut, daß man meint, sich auf ihn verlassen zu können. Wer etwa meint, daß man in der Nacht im Walde nicht erschrecken kann, der ist noch nicht in der letzten Finsternis oder auch im Zwielicht des Mondes allein hindurchgegangen Manchmal ist es ein Tier, in dessen klagendem Laut man eine Menschenstimme zu erkennen glaubt. Ein Wacholder steht an der Seite, hundert Jahre schon und mehr und sieht immer noch aus wie ein Kerl, der einem auflauern will. Es mog einer vor oder hinter einem hergehen, aber es hat nie einer ein Recht, nachts am Wege zu stehen. Und das weiß der alte Eichenknüppel ganz genau und macht gleich schon seine zuckenden Bewegungen in der Hand. Das alles aber kommt aus den Zeitverhältnissen her. Nie ist in der schwarzen Heide etwas Böses geschehen, nie ist in der schwarzen Heide einer dem andern begegnet, so einsam ist es dort, allenfalls dem Wilderer kann man begegnen. „Von den Menschen kommt die Angst, nur von den Menschen und ihrer Bosheit, von der Unruhe her, von dem Jagen nach Geld und Besitz. Die Natur ist gut, aber die Menschen sind nicht mehr Natur und sind auch nicht mehr gut.” Das sagt der Wilderer, der der einzige ist, dem man in der Nacht begegnen kann.

Die alte Stin im Dorfe hat mir neulich allerlei Spukgeschichten aus der schwarzen Heide erzählt. Mag sein, wer weiß, was alles wahr sein kann. Aber die Stin erzählt mancherlei, und sie hat viel Zeit, sich allerlei auszudenken, wenn sie da draußen unter dem hohen Nußbaum vor der Tür sitzt und mit der alten Uhl im Kirchturm redet. Ob das alles wahr ist . . .? Ich weiß aber auch, was mon tun muß, wenn einem in der Nacht plötzlich das Grauen überkommt, irgendein Grauen, das einem die Arme und Beine zu lähmen vermag. Man wendet sich um und steht einen Augenblick still. Dabei stößt man den Eicher.knüppel fest in den Sand. Es gibt nämlich ke n^n Werwolf, der einem auf den Rücken springt. Allerdings, wenn man in der Angst und mit der Angst zu laufen beginnt, dann wird man sich der Ungetüme kaum zu erwehren vermögen, das darf man niemals tun. Dann kommt man gebrochen an Leib und Seele zuhause an. Es war der Wilderer, dem ich begegnete und den ich bald erkannte. „Wen wollt denn ihr im Dunkeln schießen?” Ich wußte, daß es ihm nicht ums Schießen ging. Aber den rechten Jäger lassen die jagenden Wolken und der sausende Sturm nicht schlafen. Etwas von dem, was man „unstet und flüchtig” nennt, ist doch in jedem Jäger seit Esau schon, und seine Ruhe und seinen Frieden findet er allein im Walde, und je wilder der Sturm braust und tobt, umso heimatlicher fühlt er sich.

Ich hörte nach einiger Zeit, daß der Wilderer mit^ dem neuen Förster zusammengetroffen sei. „Förster”, hat er gesagt . . . „wer ist Förster hier? Königlich ist nicht mehr und also ist kein Förster mehr. Er kann lernen von mir, mag er nur auf die Wilderer aufpassen, ich kenne die Brüder alle.” Der Förster war empört, aber man hat ihm wohl einen guten Wink gegeben von „oben her”, wie er sagte . . . und dem Alten ist nichts geschehen, und er hat als der schwarze Jäger aus der schwarzen Heide sterben können.

Es lebt mancherlei noch im Bewußtsein der Menschen, was sehr vergangen ist, mehr noch unter dem Bewußtsein in den unteren Tiefen der Seele. Am Rande der Heide ist ein Gräberfeld, und der Bauer hebt mit der Pflugschar die Urnenscherben aus der Erde. Ein Galgen habe da oder dort gestanden, und aus dem Gebüsch auf der Landwehr treten drei weiße Frauen hervor, und eine habe dem alten Jäger ferner Zeit ein Auge ausgestochen, und es sei danach ein wilder Hexentanz um das Haus des Försters gewesen. Ich habe den Kindern alle diese Märchen und Sagen erzählt, eine ganze Stunde lang, und sie haben sich gar nicht gegruselt, weil Sommer war. Dos war damals, als die Heide wirklich noch  Heide war.   Die Bienen summten um uns her im Heidekraut, die dunklen Wacholder glitzerten mit ihren Spitzen im Licht der Sonne, und es war bei meinem Erzählen so still, daß man das Knistern der in der Wärme offenspringenden Ginsterschoten hören konnte. Der Tag war leuchtend schön im Licht und ohne irgendeinen Gedanken an den dunklen Nächtespuk, obwohl ich im Erzählen die Heide mit allen möglichen Gestalten belebte. Einmal sind wir morgens in der herbstlichen Frühe durch die schwarze Heide gegangen, als die glitzernden Spinngewebe in allen Sträuchern und über den blauen Enzianblüten hingen. Am Abend kehrten wir wieder heim. Die Kinder hatten dem Bauer bei der Kartoffelernte geholfen und die Mädchen im Flachs. Es war im Krieg, der einzige Sohn und Helfer war plötzlich eingezogen worden. Im Rot des sinkenden Abends sahen wir die hohen Kiefern der Steinberge wie mit Gold gekrönt und die Äpfel in den Bäumen und die Pfirsiche wie vergoldet in der goldig zitternden Luft. Der Bauer hat sich kaum bei uns bedankt, aber seinen Augen sah man sein Empfinden an. Die Menschen sind vielfach schweigsam wie die Wacholder an den stillen und grauen Heidewegen.

Jenseits des Waldes, an dem kleinen Flüßchen, liegt die alte Mühle. Man hat dem Wasser einen neuen Weg gegraben und hat einen hohen Damm wegen der jährlichen Überflutungen und Zerstörungen aufgerichtet. An dem alten Graben blühen um Ostern die Schneeglöckchen wild und unter den alten Buchen um Pfingsten die Maiglöckchen. Nahe dem Wasserfall und den Schnee- und Maiglöckchen und den Buchen, deren eine nicht fünf der größten Kinder umsponnen konnten, liegt das Wirtshaus, der Gutshof, in dem man sein Flaschenbier trinken kann. Und das ganze dort mit dem Wasserfall der alten ehemaligen Mühle ist wie ein Frühlingsschloß, ein helles lichtes grünes Wesen inmitten der Finsternis der schwarzen Heide. Das Waldestor tut sich auf, und es ist Fiihling, Sommer, Herbst . . . lichtes Wiesenland und ein Haus mit Weinlaub umrankt, in dem herbstens die Trauben reifen. Eßt nur Kinder, – – sagt die gute Frau der Hauses, und der Mann steht daneben und lächelt freundlich und in Frieden. Anders habe ich es dort niemals gekannt.

Ob es in der ganzen weiten Welt soviel Nachtigallen gibt? Und Grasmücken, Finken, Amseln aller Art? Und Lindendüfte süß im Sommertag! «Im schönsten Wiesengrunde”, singen die Kinder, ohne daß es ihnen einer nahelegt, aus dem Unbewußten ih-es Erlebens. Hier sitzen wir gern unter dem Lindenbaum und lassen unser Herz den Frieden finden, den die Welt nicht gibt und geben kann. Und schön ist dann auch wieder der Wanderweg zurück durch die Dämmerung und den harzigen Duft der schwarzen Heide. Die Bauern findet man allenfalls sonntags in den Abendstunden dort. Dann aber ist die große Stube gründlich verqualmt. Kartenspiel – – und sie reden gern von der alten Zeit. Der Wilderer ist lebendig und wirklich nicht mehr unter ihnen, aber sein Geist lebt weiter. Der Schwager ist selten hier anzutreffen, er liebt die Gesellschaft nicht und fühlt sich am wohlsten daheim.

Und daheim geht eben alles seinen Gang. Der Postbote kommt alle Morgen, und der älteste Sohn wird den Hof erben und vielleicht dies und das wieder anders machen, als es der Vater vor fünfzig Jahren auch anders machte. Wird ein Stück Wald geschlagen, so wird neu gepflanzt. Aber schnell ist das Heidekraut wieder da, und die Weidenröschen erheben ihre roten Blütenstände über alles. Ob hier und da eine Lichtung entsteht, ob auch der Sturm einige tausend Stämme fällte . . . der Wald ist weit, der Wald wird immer wieder neu, und es ist gut, daß die Bauern gelernt haben, daß es ohne Wald in der Welt nicht geht und daß die Natur ihr Recht behauptet. In allen Zeiten schweben über der weiten Fläche die Habichte, höher die Wolken – -und die Menschen schauen hinauf, tun im übrigen ihr Tagewerk und träumen über alle Zeit hinaus in das, was vorher war und nachher kommen mag.

 

 

Erich Bockemühl feierte am 12. Juni (1955) seinen 70. Geburtstag. Als Schriftsteller und Dichter, als Lehrer und Erzieher ist er im niederrheinischen Raum ebenso bekannt wie im Gebiet der unteren Ruhr. Fast 30 Jahre ist er in Drevenack im Kreise Rees Lehrer gewesen. Die Erzählung „Die schwarze Heide” berichtet von Mensch und Landschaft aus dem Drevenacker Raum. Seine schriftstellerische Arbeit erstreckt sich über ein weites Feld. Lyrik, Jugendbücher, Erzählungen, Gedichte, Sagen und Laienspiele tragen seinen Namen.

 

Erich Bockemühl lebte als Rektor im Ruhestand in Kettwig.

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