Vorfrühling

Vorfrühling                                                                                 Heimatkalender 1968
von Erich Bockemühl

Sollen wir ein Lob des Vorfrühlings singen und feststellen, daß er etwa die schönste Jahreszeit ist? Was sollen wir dann vom wirklichen vollerblühten Frühling und vom Sommer sagen und schließlich auch vom Herbst mit seinen blaugoldenen Tagen verblühender Träume, die wir so überaus lieben? Und wenn dann wieder Winter wird und die schweigende Fläche sich um die verschneiten Höfe breitet, alles Leben nach innen zieht und sich die weite große Welt mit ihrem tausendfachen Geschehen in unseren Seelen spiegelt, alle unsere Erinnerungen und Freuden und Leiden wunderbar verklärt sind — sagen wir dann auch schließlich noch dem Winter das gleiche Lob? Man muß die Jahreszeiten verstehen, weil jede Jahreszeit nicht nur ihre eigene und besondere Schönheit, sondern weil der Mensch zu ihr in seinem Blut und seinem verborgensten Wesen die immer besondere Beziehung hat. Wir leben in unserer Weise den währenden Wechsel der Jahreszeiten, das immer wieder Werden und Vergehen, es ist uns so sehr zu unserer Natur geworden, daß wir das „Stirb und Werde” nach unseren Gedanken und dem innersten Gefühl eines unserer Großen, Goethe ist gemeint, als Sinnbild unseres eigenen Lebens erkennen.

Wollten wir einmal im Jahreslauf den Vorfrühling mit seinem langsamen, kaum sichtbaren Verwandeln, mit seinem heimlichen verheißenden Offenbaren entbehren? Würden wir, wenn es uns anheimgestellt wäre, einmal dahin entscheiden, daß statt der Knospen leisem Grün, die  ersten zarten,  braungrünen  Holunderblättchen,  statt  der   Erde  braunem  Duft plötzlich ohne Übergang der ganze volle Frühling aufgeblüht wäre? Und die Schneeglöckchen, — wollten wir sie um der gelben und weißen Narzissen, der leuchtenden Tulpen und duftverströmenden Syringenbüsche willen übergehen und erbitten, daß sie für diesmal in der Erde bleiben mögen? Und würden wir damit einverstanden sein, daß  statt der ersten leisen zarten Morgenstimmen der Meisen in den Pappelbüschen, die als ein zartes Klingen unsere schönsten Träume rufen, gleich die Finken schlagen und die Lerchen jubeln und die Nachtigallen singen und der Pirol seinen trunkenen Ruf erklingen läßt; wäre es uns wirklich recht, wenn plötzlich nach des Winters grauen Tagen gleich  das ganze Heer der Frühlingssänger seine Freudensymphonien über uns hinjubeln würde? Ist nicht das verhaltene Stimmen der Instrumente vor dem geschlossenen Vorhang, obwohl es ein Vorgenießen dessen bedeutet, was sich wunderbar und bunt ereignen wird, doch auch ein Genießen in sich selbst und für sich selbst?! Wird nicht gar  die Disharmonie des Stimmens und der wirren Töne zur Harmonie in der Stimmung unseres Erwartens? Immer bietet der Vorfrühling, weil er die Vorfreude bedeutet, nach dem Wort des Volkes die eigentliche Freude, und weil er in sich selbst und für sich selbst die Freude seines Wesens dazu bietet, doppelte Freude.

Leise Nebel weben um die Erlenbäume und die schwach ergrünten Weidenbüsche. Kühl und klar plätschert der kleine Bach zu ihren Füßen hin, und breit braust und wallt der Strom unter dem grauen Himmel ziehender Wolken. Wird es schon morgen sein, daß sich der Himmel freimacht vom Dunst winterlicher Zeit und die Lerchen aus dem Grün der Felder in den blauen Himmel steigen? Wartend liegt das Land, wartend wiegen die Wälder ihre Baumkronen — und wartend hebt sich aus umwölkten Herzen ein erstes hoffnungsahnungsfrohes leises Singen. Wir Menschen alle spüren die Veränderung lange schon in unserm Blut. Und eben darum vermögen wir die kleinen Zeugen der Veränderung, Blumen und Stimmen, zu lieben. Was sich in der Natur ereignet, ereignet sich, wenn auch nicht immer unserem Bewußtsein klar erkennbar, in uns selbst. Mit der Veränderung des Wesens in uns aber suchen wir außen die Bestätigung. Erste Weidenkätzchen, erste Haselkätzchen, einen ersten Schmetterling, erste kleine Blüten finden wir zur Freude und Genugtuung gar, daß das Alte vergangen und das Neue wieder einmal erwacht ist.

Wo aber drüben die Wacholder stehen, schlanke, gotisch aufstrebende oder auch wie kleine Tempel sich rund nach außen erbreiternde Sträucher, dort, wo zwischendurch alte Eichen wachsen, uralte Stümpfe ihre Arme gegen den grauen Himmel recken und die Birken mit den besenzarten Reisern zitternd in den noch immer kalten Abenden zu frieren scheinen — da bietet — wie der späte Herbst — die Vorfrühlingszeit der Landschaft eigenstes Gepräge. Wacholder wie dunkle Gestalten einer ewigen Wanderschaft und der Eichen groteskes Aufragen mit den scharfen Silhouetten knorriger Astgebilde und die alten Stümpfe auf der Landwehr wie Schicksalsveteranen — und über allem rauschen uralte Kiefern wie die ewig Wissenden geheimnisvoll die wind- und sturmentlauschten Lieder der Unendlichkeit. Groteske Landschaft unter des Himmels Graugespinst. Landschaft, herb und wirklich in ihrer wuchtigen Ursprünglichkeit. So ist das eigentliche Bild der Heide, das sich mit dem Frühlingsgrün der Birken und dem Sommerblühn der Erika verwischt, das eigentliche Bild, der herbe wahre Urzustand, vor und über dem das mildere und freundlichere Erschließen kommender Tage nur ein Geschehen, ein Vorübergehen ist.

Und doch immer wieder: freuen wir uns nicht des leisen Grünschimmerns und des süßen Duftes heller Birkenbäume und des bienen-süß durchsungenen Heidesommers? Und ahnen wir nicht über der herben Wirklichkeit die Schönheit, die diesem düsteren Wesen unserer Heide dennoch zu offenbaren möglich ist? Vielleicht, daß, indes wir unter grauem Himmel in die Heide gingen, um ihre graue Wirklichkeit zu schauen, sich der Himmel lichtet und die Sonne scheint! Vielleicht, daß dann und gerade dann ein Schimmer ihrer Lieblichkeit einen gelben Schmetterling in seinem ersten Frühlingsschweben über die Landschaft trägt, vielleicht, daß uns Merlin und Iselin, die ewigen Märchenwesen, aus Wald- und Frühlingstraum erstanden, vorübergehn — und vielleicht, indem wir von den Hügeln schreiten, liegt das breite, grüne, braune und weite Ostertal des großen Stromes unterm Sonnenlicht, in dem die Hasel-und Weidenkätzchen und die alten Höfe mit dem Gegacker ihrer Hühner wie vergoldet sind.

 

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