Die Heide

Die Heide wandert ins Dorf zurück                            Heimatkalender 1966
von Günther Bockemühl

Gedanken um Mensch und Landschaft am Niederrhein

Die Landschaft prägt den Menschen bis in die letzte Substanz. Niemals vermag der Mensch aber seinerseits die Landschaft im tiefsten Wesen umzugestalten. Versucht er das, geschieht etwas, was wir Heutigen noch nicht zu erfassen vermögen. Bohrtürme, Fabrikschornsteine, gewaltige Umschichtungen, Anschüttungen, Baggerseen, ja Müllkippen entfalten, wenn der Wind, das Frühjahr, der Regen, der Sommer und das Laub des sterbenden Jahres über die Wüste der Technik hinweggehen, die alte mystische Welt. Die Landschaft ist unwandelbar, sobald man ihr wieder ihre ureigenste Entfaltungsmöglichkeit zurückgibt.

Der Dichter sagt: „Die Heide kehrt in unser niederrheinisches Dorf zurück.” Stehen wir nicht mitten in dieser Umkehrung aller Dinge? Und geschieht dies, weil der Mensch zurückkehrte, weil er dem Ruf J. J. Rousseaus folgte, als dieser rief: „Zurück zur Natur!”? Geschieht dies, weil der weise Philosoph Theodor Lessing in Hannover (feige und hinterrücks von der SS in Prag durch ein Fenster erschossen) der Erde den Tod vom Geist her voraussagt? Geht die wundersame Natur auch darum am Geist zugrunde, weil die Schlichtheit und Schönheit nicht genug ist, und der Mensch die Blume, die Blüte bis ins Letzte hochzüchtet — aber unfruchtbar macht? Geht nicht gar der Sinn, der göttliche Impuls der Natur zuschanden, wenn der Mensch um des Nutzens, des egoistischen Gewinns wegen, die elementare Gewalt des Geschlechtlichen durch künstliche Befruchtung zerstört? Ist dieses motorisierte Leben noch Leben? Nein! Die Heide wandert ins Dorf zurück. Der große Maler am Niederrhein ließ um seinen Besitz die Sträucher, Bäume, Gräser, Blumen und das „Unkraut” wachsen, wie es wuchs, und jenes entsetzliche Bild allüberall am Niederrhein im Frühjahr 1964 in den Eichenhainen und Eichenwäldern war bei ihm nicht. Er hatte den Vögeln ihre Lebensgrundlage erhalten. In seinem Besitz war keine Eiche kahlgefressen. Die Vögel hatten die Überzahl der Raupen des Eichenwicklers vernichtet!

Das Dorf ist noch da. Die Heide wird ins Dorf zurückwandern. Die Glocken des alten Kirchturmes werden die Stunden schlagen über die Ebene hin. Am alten Schulhaus wachsen die Wildkastanien, die der alte Lehrer pflanzte. Der ungenützte Turnplatz der Schule fügt sich bereits wieder in die alte Landschaft ein. Es wächst und gedeiht dort wieder, was im Sand der Heidelandschaft immer gewachsen ist! Kaninchen werden nicht mehr überhand nehmen. Der Jagdbauer schießt nicht mehr einfach alle Füchse ab, und auch der Dachs wird wieder seine Lebensgrundlage finden. Der Bauer wird eines Tages die Knicks und Hecken um die Felder wieder anpflanzen. Vögel nisten wieder, und der tiefgründig klagend-tragische und schöne Sang von Drossel und Nachtigall wird wieder in die Herzen aller dringen. Der peitschende Wind über die Ebene treibt im Frühjahr nicht mehr Erde und Saat von den Feldern weg.

Kühlschrank und Fernsehen haben auch im Dorf Einzug gehalten. Die alten Bauerngaststätten wurden zu Bars der „grünen Lunge” — aber der Mensch? Zivilisierter geworden — ja, aber — ist Zivilisation hier Fortschritt? Ist Fortschritt nicht im wahrsten Sinn des Wortes ein Fort-Schreiten von allem, vom Leben selbst? Gewiß! Aber der Mensch ist im Dorf unserer Heimat dennoch der Mensch eigentlich geblieben, in seiner Verhaftung in den Gegebenheiten des Seins. Er ist nicht herauszulösen aus der Faszination des Ursprünglich-Landschaftlichen in der Heide mit Kolk, Moor, Wacholder und Kiefer. Auch nicht der junge Mensch, dessen Garage und Volkswagen selbstverständlich sind! Auch nicht jener junge Mensch, wenn er in den Bars der „grünen Lunge” Twist tanzt! Er wird nicht vom ererbten, väterlichen Besitz wegziehen, selbst wenn er woanders sein tägliches Brot verdient. Und wir? Wenn es möglich wäre, wir würden eher heute als morgen in das alte Sein zurückkehren! Unfaßbar? Das ist nicht schlechthin das heute so zerschundene Wort „Heimat”, — das ist es auch — aber es ist mehr. Die Landschaft formt den Menschen.

Trotzdem irrt Marx, wenn er sagt, daß der Mensch das Produkt seiner Umgebung ist! Der Mensch ist nicht zum  Produkt geworden dessen, was ihn umgibt, sondern er ist geformt von dem, was die Charakteristik der Landschaft, das, was Jahrtausende aus der Mystik und dem Wesen der Landschaftsursprünglichkeit in ihm seelisch komprimierten. Auch das Dialektische der Sprache spiegelt hier das Landschaftsursrprüngliche wider. Die unendliche Weite des Niederrheins, die ausgeflachte Breite, die wie selbstverständlich sich bietende Hand des Horizonts, der Unendlichkeit gar, sind unverkennbare Merkmale dieses so tiefveranlagten, deutenden ahnenden Worts des Niederrheiners: „Hier ahnt man schon das Meer, die ewige Breite, wie liegen Strom und Fläche weit hinaus . . .” singt der Dichter am Niederrhein, jener Dichter übrigens, der das Wort prägte von der Heide, die ins Dorf zurückwandert. Was ist das, was hier gesagt wird? Was ist das, wenn der junge Lyriker G. Schneiderath sagt: „Ich schreibe — die Worte der Kraniche — auf meine Haut. — Aber jeden Morgen — frißt — mein Herz sich tiefer in den Sand . . .”? Ist das der Umbruch? Vielleicht — ja! Einfach eigentlich, so realistisch ist das, wo das Herz sich tiefer in den Sand frißt! Wo ist denn der Sand, der den Lyriker so anpackt, wenn die Kraniche über das weite Land, unser Land, segeln? Der Sand ist da! Der Mensch kann ihn gar nicht wegschaufeln — nein, er gräbt sich in ihn hin ein; er ist aber dennoch kein Vogel Strauß — er will sich nicht vor ihm oder in ihm vergraben. Er bejaht ihn, den Sand. Es ist doch sein Land.

Der aus dem Ursprung der Weltentstehung herrührende Bärlapp kriecht den Sandhügel empor, der alte Moorenzian reckt sein leuchtendes Blau in die Morgensonne, auf den verruchten Trümmern des Krieges wächst der schönste Baum des Niederrheins — die Birke —, und wie denn kehrt die Heide ins Dorf zurück? Sie ist ja schon da! Aber auch ganz realistisch. Die Kiefer unseres Landes bringt keinen Nutzen mehr für den Menschen der Wirtschaft, das urbargemachte Land verdorrt. Gestraft wird der, der Moorland entwässert. Stempelkiefernholz für die Bergwerke ist uninteressant. Hier wird Stahl und Kunststoff führend. Holz als Heizstoff? Der Großbauer zweifelt mit Recht an der Nutzbarkeit des Urbargemachten. Die Entwässerungsgräben werden wieder versanden. Kolk und Moor kehren in unser Landschaftsbild zurück.

Die Heide wandert auch an dem Zweifelnden vorbei ins Dorf zurück. Zweifelnder ist auch der bekannte Niederrheinmaler. Er hat aber andere Gründe. Der Bauer verkauft sein nutzlos urbar gemachtes Land an den Industriellen, den die Sucht ins Land des Friedens, der Unberührtheit drängt. Er baut die Bungalows. Er zwingt sein Grundstück mit dem Wasserschlauch in blühende Rosengärten. Das ist richtig! Aber wie lange wird das so gehen? Die Bungalows, wer weiß, sie werden vielleicht einstmals absinken zu Ruinen, wenn die Heidschnucken wieder von hetzenden Hunden in die notwendige Richtung gedrängt, von weisen Schäfern aber abends behütet in ihrer Umgrenzung liebend vom Unheil bewahrt werden. Wer weiß! Hier jedenfalls hat der Maler und Zweifler Recht — wenn er aber Recht behält, wahrhaftig, dann bewahre uns Gott! Und gerade er — ich sehe sein Unvermögen, sich aus diesem Landschaftsmythos zu lösen — seine Bilder von den bunten Kühen auf grünsatten Lippewiesen, das Dorf, der Bauer, der Kirchturm und die alte Schule, von wo sein Wirken einst ausging, das ist eine Welt, in der wir alle tief verhaftet sind. Und die grünen Lippewiesen, werden sie bleiben, wenn von den chemischen Werken unverantwortlich die schwarzen, giftigen Abwässer in  diesen romantischen Fluß geleitet werden? Kein Naturschutzverband, kein Tierschutzverband  und  kein  Landschaftsverband  haben  die  Macht,  den  Staat zu  Gesetzen zu zwingen, die den Mord an Natur und Tier endlich beenden! Was ist geblieben von den klaren Wassern der kleinen Flüsse, in denen wir als Kinder das Schwimmen lernten? Die Zäune der Wiesen zum Fluß hin müssen geschlossen werden. Der Bauer ist gezwungen, mühsam das Wasser zum Tränken der Tiere auf die Weiden zu bringen. Die Fische sind tot! Es gibt also nur noch eine uneingeschränkte Vergewaltigung durch die Industrie. Aber wahrlich, die Schuld  des Verbrechens  an der Natur werden wir bezahlen müssen!  Alle!  Die Rechnung kommt unweigerlich! Werden wir erkennen, worum es geht? Werden wir begreifen, daß wir nichts sind, wenn wir uns zum Maß aller Dinge machen? Der Mensch soll und ist eingebettet in die Harmonie des Ganzen. Er ist zwar das weitestgeformte Wesen der Natur — aber nicht ihr Beherrscher. Er trägt die größte Verantwortung, die er bisher in seinem Machtstreben vergaß. Er hat die Natur verschachert, verbucht, verrechnet und eingestuft in den Wahn seiner Millionen, aber hat er die Natur besiegen können? Nein! Die Schlachtfelder der Kriege legen Zeugnis ab davon, daß die Natur sich nicht besiegen läßt. Über die Gräber von Tausenden hinweg wuchert nach Jahren die ganze Kraft ihrer unfaßbaren Möglichkeiten, und Millionen Keime neuen Lebens gebiert die Erde aus ihrer göttlichen Substanz. Sie wird sein und bleiben, was sie immer war! Nur wir, wir Menschen, stehen verzweifelt vor dem, was wir nicht erkannten. Wir vergaßen die letzte Achtung vor dem, das das gleiche Recht hatte zu leben wie wir. In den Tiergärten versuchen wir letzte Gattungen zu retten, und auf den asphaltierten Plätzen stellen wir überdimensionale Tonbecken auf, um Grün und Blume in den Nützlichkeitswahn zurückzuholen. Die immer mehr verstoßende Industrialisierung zer reißt neue Lebensgrundlagen, gibt aber auch andere Wege dann wieder frei! Und eben darum: Die Heide wandert ins Dorf zurück! Die Birke wächst auf den Mauertrümmern des zerstörten Domes. Über das urbargemachte Heideland hinweg rankt sich die Heide ins Dorf zurück. Die Nachtigall singt aus den Büschen ihr tragisch-schönes Lied in früher Mondscheinnacht, und der Wanderer verhält den Schritt, wenn die Turmuhr des Dorfes die Zeit in das weite, niederrheinische Land singt!

Nur eine halbe Stunde Fußweg vom Dorf weg, und man gelangt in eine unvorstellbare Landschaft, in eine Wacholderlandschaft, die in einem noch das Gefühl völliger Unberührtheit aufkommen läßt! Traumland aus Urzeiten. Wen würde es nicht ergreifen! Die Landschaft formt den Menschen bis ins Letzte, und keiner kann sich ihr entziehen! Rufen wir sie zurück in unsere Möglichkeiten! Geben wir dem Leben, was des Lebens ist! Lassen wir die Heide ins Dorf zurückwandern! Allein der Mensch gewinnt dabei!

 

 

Die Neuhaus Kathe

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