Pappeln

Die beiden Pappeln                                                               Heimatkalender 1962
von Erich Bockemühl

 

Wenn ich im späten Sommer in der wie überirdisch verklärten Stille des gläsernen Him meislichtes im Weidengebüsch des Flusses saß, blickte ich oft über das Floß meiner Angel hinweg auf jene beiden Pappelbäume, deren einer wie ein Grenadier aufrecht stand, deren anderer wie mit gebrochenem Kreuz niederkauerte und nur mühsam aus der gebückten Stellung den Kopf aufrecht hielt.

Es war sehr still in solchen Stunden, die wie zeitlos sind. Das Dorf nebenan ist sehr alt. Der Burgturm mit dem spitzen Dach ist so alt wie die in Weideland verwandelten Wassergräben. Wenn man sich der leisen Wellenmusik hingibt, von der der gelegentliche Klang der Fährglocke als einziger Ton getragen wird, wird das Vergangene gegenwärtig. Dann ist auch die Zugbrücke wieder da und die schwimmende Mühle am Eingang des Hafens, von denen in alten, halbvermoderten Papieren berichtet wird. Es ist seit wohl zwei Jahrhunderten noch nicht vergessen, daß der Pastor des nahen Kirchdorfs mit dem Säckchen Korn, das er wollte mahlen lassen, von dem schmalen Steg abgeglitten und ertrunken ist, und daß er das in der Nacht vorher in allen Einzelheiten geträumt und, schreckhaft aufgewacht, seiner Frau erzählt hat.

Auch die Namen der Menschen haben einen seltsam altertümlichen Klang. Viel Schicksalhaftes ist bekannt, das alles Geschichte geworden ist. Hätten die Männer und Frauen, die Jünglinge und Jungfrauen, damals wissen können, wie man heute ihre sogenannten Verfehlungen lächelnd entgegennimmt, als etwas zum Leben Hinzugehöriges, im Guten und Bösen fast Unvermeidliches, so wäre ihnen manches leichter zu ertragen gewesen. Ich will sagen: man sieht die Dinge der Zeiten nebeneinander als Bild, und das Wellenrauschen verwandelt Farbe und Gestalt in Musik, die sich einspielt in das sommerlich summende Erzittern des  Lichts.

Auch die beiden Pappeln sind alsdann in das goldene Gewebe des sonnenlichten Nachmittags versponnen. Hendrik und Manke Mau, wie man die beiden Alten im Dorf nannte — zu ihnen gehörte auch der alte Aaron, der nach seinem Tode noch lange am Schießberg umging und nun auch wohl auf seine Weise in der Ewigkeit gelandet ist. Hendrik, der Kerl, der wie ein Herr durch die Schützenfeste tanzte, wofür Manke Mau das Geld verdienen mußte, die einstmals, als der Aaron auch noch jung war, einen geraden Rücken hatte. Ich kenne das alte Haus, in dem sie wohnten, durch das die Wildheit des 30jährigen Krieges gebraust ist, sehr wohl.

Es ist viel geschehen im Laufe der Jahrhunderte, und dem fidelen Hendrik war es gleich, auf welche Weise seine Manke Mau ihr Geld verdiente, und wenn Aaron ihn wegen der Schulden mahnte,  wußte er sehr wohl, warum er ihn auslachen konnte.  Bis er seiner Manke Mau im Streit das Rückgrat brach. Da lag sie nach ein paar Jahren tot unter der einen Pappel, und er selber hing an der anderen, und bald darauf wurde dann  auch Aaron begraben. Sie waren inzwischen alte Leute geworden, und wenn sie auch an Jahren so alt nicht waren, so lebten sie doch so im Bewußtsein der Leute fort. Ein Reiher fliegt vor mir auf und weitet wiederum die Landschaft über alle Grenzen des Sichtbaren  ins  Unendliche.  Wenn  das  Vergangene  in unserm   Empfinden  zeitlos  wird, wird es im Gegenwärtigen  „Raum”. Die  Seelen Hendriks  und Manke Maus seien als eine mahnende Warnung in die Pappeln eingegangen, die eine in die gerade, die andere in die krumme. Der alte Schiffer Linden hat ihre Stimmen gehört, die eine schimpfend, die andere klagend. Aber seitdem der alte Aaron nicht mehr am Schießberg umgeht, sind auch die Stimmen nicht mehr gehört worden.

Es ist unsagbar still, nun ich die Angelschnur aufgerollt habe und wohl selber eingewoben bin in die Harmonie der sommerlichen Stunde.

 

 

Dieser Beitrag wurde unter Drevenack veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.